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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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durchschlagen hat. Wenn es das Herz durchschlagen hat, hast du die Möglichkeit, den Kopf dorthin zu drehen und dazu zu grinsen, das macht die Gerichtspolizisten ganz krank; wenn das Geschoss die Hirnschale durchschlagen hat, dann kannst du kein Kunststück mehr aufführen.«
    Der Blasse Magister stürzte auf ihn los, die beiden Todeskandidaten gingen einander an die Kehle und rollten scheppernd über den Kang. Ein Teil der anderen Gefangenen stand Schmiere, der andere trennte die beiden mit vereinten Kräften. Der Vorsitzende Chen und ich hielten jeweils einen von den beiden fest, der alte Gefangene Vogel Sun sagte im Spaß: »Heute Mittag verkaufen sie Fleisch, nach dem Essen könnt ihr weitermachen.«
    Der Kleine Tote nickte: »Der Mensch ist wirklich das Allerletzte, ich habe immer gedacht, wenn es ans Sterben geht, steht einem der Sinn nicht mehr nach Fressen, aber ganz im Gegenteil, in die Wampe geht noch mehr rein als vorher.«
    Als der Tote Chen das hörte, verwandelte sich sein Zorn in Gelächter: »Lebende Tote, die den ganzen Tag noch an die Fresserei denken? Das ist wirklich das Allerletzte!«
    Zum Mittagessen wurde kein Fleisch verkauft, aber am Abend gab es zweimal gebratenes Schweinefleisch mit Chili. Die drei Todeskandidaten kauften fünf Portionen, putzten alles weg, und der ganze Groll war begraben. Der Magister in seinen weißen Klamotten wischte sich nach dem Essen den öligen Mund und sagte: »099, jetzt müsstest du nur noch ein Gedicht rezitieren!«
    Ich fühlte mich geschmeichelt und redete einfach drauflos: »Drei Münder aus der Hölle haben mit uns Fleisch gegessen.«
    Die Gefangenen riefen bravo.
    Der Tote Chen fuhr fort: »Wer weiß, ob sie morgen noch Fleisch essen können?«
    Und der Kleine Tote fuhr fort: »Wer weiß, ob ihr euch der drei öligen Mäuler erinnern werdet?«
    Und die Meute antwortete: »Natürlich nicht!«
    Der Blasse Magister fuhr fort: »Stolz hört man es durch die Zähne schrein/Ratet, ist das ein junges oder altes Schwein?«
    Ein paar Gefangene hatten eine Antwort, einen Indizienbeweis: »Ein altes Schwein, man kann das Leder nicht kauen.«
    Der Blasse Magister machte weiter: »Wir sind alle tote Schweine/Angst vor heißem Wasser haben wir keine.«
    Und der Kleine Tote weiter: »Wann machen sie aus uns zweimal Gebratenes?«
    »Dieses Gedicht wird immer billiger«, murmelte der Vorsitzende Chen, »alter Liao, mach noch ein paar Zeilen, um den Puff hier zu beruhigen!«
    Ich senkte den Kopf, überlegte einen Augenblick, sah hoch, richtete mich auf und deklamierte:
    Eine Sternennacht, eine Schädeldecke mit Einschusslöchern
    In unseren Köpfen sprechen wir über den Tod
    unter den ewigen Neonröhren sprechen wir über den Tod
    ob wir auf den Knien dahingehen oder im Stehen
    ob die Kugel das Herz durchschlägt
    oder den Hinterkopf
    ob der Henker ein guter Schütze ist
    wohin die Soße spritzt
    ob der Seele, wenn sie aus der Höhle fährt
    Zeit bleibt für ein Lachen
    ob die Beine wie Masten nach oben stehen
    wenn der Arsch kopfüber in die Grube fährt
    Das Rassseln der Ketten zerfließt im Geplätscher des Totenflusses
    Wenn am Vorabend deiner Erschießung
    der Gerichtsarzt dir das halbe Blut abzapft
    wirst du dich fühlen, als ob du schwebst
    dein Puls wird langsam wie ein Federballspiel im All
    Gebell, größer als Kartoffeln
    fällt über dich her …
    Die Gefangenen hörten zu, wie im Nebel, wie in den Wolken, der Magister in den weißen Klamotten gähnte und meinte: »Das Gedicht kenne ich rückwärts, das ist doch ein Plagiat, oder?«
    Der Tote Chen sagte: »Da drin kommen aber Worte vor, die wir benutzt haben.«
    Der Kleine Tote fragte: »›Gebell, größer als Kartoffeln‹, was heißt denn das? Willst du uns beleidigen? Wenn wir das Gebell sind, dann bist du ein Wolfsherz.«
    Ich konnte nicht weinen und nicht lachen.
    Der Vorsitzende Chen erklärte geschäftig: »Das ist ein obskures Gedicht, die sind draußen sehr in Mode.«
     
    Zwei Tage vor dem Nationalfeiertag wurden im Gefängnis der Reihe nach sämtliche Zellen durchsucht, aber wir hatten das längst erwartet, deshalb empfanden wir gar nichts angesichts der Maschinengewehre, der Polizeiknüppel und der aggressiven und aufbrausenden Mörder.
    Die Zellentür ging auf, der für unsere Zelle zuständige Regierung Tong kam an der Spitze einiger bewaffneter Polizisten herein, blieb in der Gitteröffnung stehen und filzte uns, als wir mit hocherhobenen Armen im Gänsemarsch herauskamen. Vor und hinter der

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