Für ein Lied und hundert Lieder
meiner Schwester den »Bericht unter dem Galgen« gelesen, die Opfer in diesem Buch zählten auch häufig, an das Eisengitter gelehnt, die Sonnenflecken, was in ihnen eine Saite zum Schwingen brachte und sie ein Lied anstimmen ließ. Einer von ihnen sang, unterstützt von den anderen, unter denen ein stummer Gefangener war, den sie »Väterchen« nannten, der mit Tränen in den Augen seine Schultern bewegte.
»Er singt mit dem Herzen, denn morgen würde die Sonne nicht mehr auf ihn scheinen«, schrieb der tschechische Revolutionär Fučík, »und da war auch noch der melancholische junge Jude, der dem Väterchen durch das Gitter lange zusah, und seine Stimme war so schwach, dass man ihr Zittern nicht einmal wahrnehmen konnte.«
Gegenwart und Vergangenheit überschnitten sich, ich hatte das undeutliche Gefühl, als sei ich selbst Teil dieses Buches, als würde ich selbst von einem anderen Gefangenen gelesen oder als erinnere er sich an mich. Ich war ganz trunken von dieser lautlosen, die Zeit dekonstruierenden Melodie: Viele lauschten ihr, viele reagierten auf sie; das Wasser floss, ganz gleich, ob du dieses »Fließen« vergisst oder nicht.
»Sesambonbons – dingdang!« ein heiseres, immer wieder verstummendes Rufen, aber es drang durch drei dicke Mauern, verschmolz mit der Melodie, die durch meinen Kopf floss, und gaukelte mir Bilder vor aus meiner Kindheit: »Die Sonne kommt schon die Berge herab, dingdang – Sesambonbons!«
»Das Wasser steigt!«, schrie jemand vor der Tür, sofort dröhnte das Eisengitter, ein gutmütiger Kerl mit einem Stoffbündel unter dem Arm quetschte sich herein und murmelte etwas vor sich hin.
»Felldiebchef«, rief Wang Er, »bring ihm ein bisschen die Regeln bei.«
Wan Li, der sich geschmeichelt fühlte, versprach es ein paarmal, kramte eine zerrissene Hose heraus und befahl dem Neuen, in den Innenhof zurückzugehen und den Boden zu wischen.
»Fünfmal«, sagte er und tat so, als würde er ihm in den Hintern treten, um seine Worte zu unterstreichen. »Jede Ecke und jeder Winkel muss blitzen, der Boden muss wie ein Spiegel sein, wir kommen alle gerne heraus und sehen uns in diesem Spiegel an.«
Der Kerl verdrehte die Augen, machte sich zähneknirschend an die Arbeit – und war im Handumdrehen fertig. Er reckte sich und wartete auf weitere Anweisungen.
»Drinnen geht’s weiter«, machte Wan Li deutlich. Seine Worte waren noch nicht verklungen, als der Arbeitsroboter wie ein Blitz an ihm vorbeischoss, Wan Li ins Wanken brachte und bei seinem energischen Hin und Her ein paarmal an ihm vorbeischrammte. Er knirschte knackend mit den Zähnen, und wenn er an jemandes Füße stieß, dann ging er der Gefahr nicht aus dem Weg, sondern überrannte sie einfach. Der Große Drache, unser Räuber, wich zu spät aus und flog ein paar Meter durch die Luft.
Der Kerl reckte sich erneut, mit einem nicht lesbaren Gesichtsausdruck. Wang Er bellte eine Anweisung, und die Meute riss ihn mit vereinten Kräften auf den Kang herunter und traktierte ihn mit Schlägen und Tritten. Der Kerl stieß ein Tigergebrüll aus, sprang wie ein Fisch auf, drehte sich wie ein Panzer auf der Hochachse und schlug schluchzend um sich. Unglücklicherweise bekam ich eine verirrte Faust ab, ein stechender Schmerz, und ich warf mich eine Weile wutentbrannt mit ins Getümmel.
Aber der Kerl wurde immer kühner und schwang die Arme so eng, dass keine Zeitung dazwischenpasste. Als der Große Drache sah, was los war, nahm er eine Schale mit kaltem Wasser und goss sie ihm über, der Kerl war klatschnass, aber triefnass, wie er war, bahnte er sich wie ein frisch geölter Panzer unaufhaltsam seinen Weg, niemand konnte ihn aufhalten. Der Große Drache wurde bis zum Wasserbecken zurückgedrängt, ein einziger Faustschlag dieses wild gewordenen Ochsen, und die Waschschüssel flog durch die Luft, er wurde an den Hüften gepackt, landete im Bassin und schluckte ordentlich Wasser.
Die Unterstützung blieb wirkungslos, und die Meute schrie entsetzt: »Er bringt ihn um!« Erst da erwachte der Wachsoldat im ersten Stock wie aus einem Traum. Regierung Yu, der für Ruhe und Ordnung zuständig war, kam in die Zelle und stieß von ferne mit dem Elektroknüppel zu, der Wahnsinnige schnellte mit einem Schrei in die Luft und fiel in den Dreck.
»Melde der Regierung, das ist ein Irrer!«, sagte Wang Er völlig entrüstet.
»Das sehe ich besser als du«, lachte der alte Yu amüsiert, »ein Irrer in einer Zelle voller
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