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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Leier zurück: »Sinologen der ganzen Welt sind nach China gekommen, einschließlich meines Tutors«, tutete er, »sie alle wollen das größte Ereignis der Menschheitsgeschichte mit eigenen Augen sehen.«
    Da ging das Pulverfass hoch, lautlos, meine Gehirnmasse dehnte sich aus, meine und seine Augen waren blutunterlaufen. Die Fäuste schwingend tobte ich mit ihm herum, der Pulverdampf vom Schlachtfeld legte sich auf den Esstisch, das Mittagessen zog sich bis vier Uhr, zurück blieb eine Wüste aus Tellern und Gläsern, und zwei besoffene Kerle mit ausgetrockneten Kehlen schwankten auf die Straße hinaus. Dort trafen wir auf einen Trupp bewaffneter Polizei, sie waren auf Patrouille, Michael sagte angespannt: »Wo wollen die hin?«
    Ich machte einen Spaß: »Zum Scheibenschießen auf die Westberge.«
    Nach einer Weile kam noch ein Trupp vorbei.
    »Wollen die auch zum Scheibenschießen?«, fragte der gute Michael.
    »Nein, die wollen zur Schule, von Lei Feng lernen.« [13]
     
    Am Mittag des 3. Juni drückte eine dicke Wolkenschicht auf die Stadt, wie eine umgestürzte Bratpfanne, in der die Welt dampfend schmorte. Mit nacktem Oberkörper kämpfte ich mit Michael herum, A Xia, die zwischen den Fronten stand, hielt es irgendwann nicht mehr aus, stieß einen spitzen Schrei aus, ließ die Teller fallen und flüchtete ins Schlafzimmer.
    Mir ging der Gaul durch, ich trat die Tür ein und schlug auf sie ein, A Xia war ganz verzweifelt, ich schleuderte sie gnadenlos aufs Bett. Michael Day stand neben dem Tisch und wusste nicht, was er tun sollte, wie ein großes Kind. Im Radio ging es mit den »Interviews vom Tiananmen« kämpferisch den ganzen Tag weiter.
    Glücklicherweise erschien Ba Tie rechtzeitig auf dem Plan, er brachte Michael weg. Auf einmal war es im Raum ganz still, die Zeit verging unerträglich langsam, im Schlafzimmer rührte sich lange nichts, ich hatte Angst vor einem Unglück, kroch zum Schutzfenster und spitzte hinein. Es war dunkel.
    »A Xia!«, rief ich und schob den Kopf schief hinein.
    »A Xia!« Ich klang wie ein freundliches Raubtier.
    Ich wusste genau, wie aufbrausend sie war, je mehr man sie bedrängte, umso höher schlugen die Flammen. Also ließ ich sie, hockte mich in die Tür und untersuchte eingehend meine Hand.
    »Scheiße, was sollte denn das jetzt?«, brummte ich, »A Xia, ich hatte nie vor, dich zu schlagen, es ist die Hand, sie ist mir schneller ausgerutscht, als ich denken konnte.«
    Ich saß gelangweilt auf dem Rattanstuhl, wie eine Holzfigur. Ich hatte das Gefühl, nach hundert Jahren Lärm sei es plötzlich still geworden, ich kaute ein wenig auf meiner Spucke herum, mein Herz schlug, meine Armbanduhr tickte. Es wurde dunkel, noch dunkler, die schwarzen Kreise auf den Vorhängen verschmolzen miteinander, Ameisen krabbelten mir in kleinen Trupps aus den Augenhöhlen, ich spürte, wie sie in die Pupillen hineinkitzelten, direkt ins Gehirn.
    Flugblätter, Unterschriftensammlungen, Aufrufe, wie viele Leute sich an diesem historischen Wendepunkt zeigen, wie viele eine Hauptrolle spielen wollten – aber in einer Bewegung von solchen Ausmaßen spielt nur eine kleine Gruppe eine Hauptrolle. Und für die Hauptrolle muss oft ein hoher Preis gezahlt werden. Der Impuls für meine Wünsche in dieser Richtung geht auf meine Kindheit zurück, eine unselige Kindheit voller Selbstgespräche. Ich führte Dialoge auf, Dialoge mit mir selbst, mit verschiedenen Stimmen, machmal haben Tiere und Pflanzen mir geholfen, mir einen Gedanken auszudenken oder eine Liebe oder eine überdrehte Mimik. Pflanzen und Tiere waren Publikum und Mitspieler in einem. Der Theatervorhang aus Wolken, die Ähren der Sterne, oben hingehängt die Sonne: »Die Flut stieg dreimal/malte den Himmel mit Wellen schön.« Ob ich so eine lyrische Zeile überhaupt noch hinbekam?
    Ich stieß das Fenster auf, aus der Ferne kamen die Beischlafgeräusche von Yangzi und Wu-Fluß, leuchtende Samenfäden übersprühten den Horizont, die Sonne war rostig und voller Flecken, ein halber Mond stand früh am Himmel und teilte das All in zwei Hälften, Yin und Yang, ein rotes und ein weißes Tau baumelten in der Luft, und je mehr sie baumelten, umso schlimmer. Der Wind ist ein kopfloser Geist der Gehenkten. Das Blut schwoll auf, von dunkelrot bis violett, ich sah, wie aus Michael Day schüttelnd ein Löwe wurde, wie es ihm die goldene Mähne weckte. Dieses Wesen aus Menschenkopf und Löwenleib verwandelte sich immer mehr, mein Zimmer war

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