Für ein Lied und hundert Lieder
sind lahm
Wir sind im Lärm, doch wir sind taub
Wir sind im Durst, doch wir wollen nicht trinken
Sie kennen nicht die Zeichen der Zeit, sie hören die umzingelten Menschen, sie versuchen, die Sonnen zu töten
Du hast nur dein Weinen, noch weinst du, weineweineweineweineweineweineweine! Weineweine! Weine!
Du bist zu Tode betrübt, zu Tode gebrannt, du stehst in Flammen! Aber du weinst!
Du stehst auf der Bühne, du bist eine Posse, du wirst zur Schau gestellt in den Straßen, aber du weinst!
Deine Augäpfel bersten, versengen die Gaffer, aber du weinst!
Du setzt ein Kopfgeld auf dich, spionierst dir nach, stellst dir eine Falle
sagst, du hast dich geirrt, alles war falsch in deiner Frist! Aber du weinst!
Sie machen Hackfleisch aus dir, du weinst
sie drehen dich durch, du weinst
und wenn dich ein Hund frisst, du weinst in ihm weiter! Weinstweinstweinst!
Dieses Massaker überleben nur Hunde.
Die Zeit verschwamm, schweißgebadet brachte ich das Massaker auf dem Papier zu Ende, das reale Massaker sollte in acht Stunden geschehen. Ich grub mich aus meinem Arbeitszimmer heraus, krempelte die Ärmel hoch und machte etwas zu essen. Ich hörte die Tür aufgehen, es war ein völlig deprimierter Michael. A Xia öffnete die Schlafzimmertür, schob mich zur Seite und ging selbst in die Küche. Das letzte Abendessen begann, wir drei saßen am Tisch und stocherten in unserem Reis herum, niemand wollte als Erster zu den Gerichten greifen, die in der Mitte des Tisches standen. Michael fiel der Löffel aus der Hand und ging in Scherben, ich stand auf und holte ihm einen neuen, unversehens fing ich seinen naiven Kinderblick auf, der zwischen A Xia und mir hin- und herwanderte.
Nach dem Essen saß Michael ganz verschüchtert da, er rührte ausnahmsweise sein Radio nicht an. Er sah aus wie ein Buckellachs, der zu wenig Sauerstoff bekommt, er machte ein paarmal leidend den Mund auf, aber es kam nichts heraus. Ich sagte, wie öde, ich gehe schlafen, und gähnte wie zum Beweis.
Die Gardinen im Schlafzimmer waren blau mit weißen Sternen, dichtgesäte Einschusslöcher aus einer anderen Welt, mein ganzer Körper bestand aus Waben, aber ich war nicht tot, ich wurde von einem Wind fortgetragen, krachend wurden mir Haut und Fleisch von den Knochen gebrochen, das Ganze hing als Gardine neben A Xia. Wie Seide floss das Blut vom Haus in den Abgrund. Ein riesiges rotes Tuch. Das Gebäude war zu hoch, Wasser brauchte mehrere Sekunden, bis man es unten undeutlich aufkommen hörte. Das Blut prasselte. Jemand rief mich, ich hörte es, es rüttelte zweimal an der Schlafzimmertür, als hätte sie Schüttelfrost.
Ich stand auf und stürzte in mein Arbeitszimmer, aber Michael Day stand halbnackt auf dem Balkon und gestikulierte in einer schreiend bunten Unterhose in der Gegend herum.
»Sie haben geschossen!«, murmelte er.
»Wo?« Ich streckte hastig den Kopf nach draußen. Diese hochgewachsene Sphinx zeigte wirr in eine Richtung und schrie: »Die Soldaten, diese unmenschlichen Bastarde!«
Ich neigte den Kopf und lauschte, aus Südosten kam ein Knattern, es klang wie Bohnenbraten, doch man hörte dazwischen ein verstohlenes Seufzen, das in einer Atempause sagte: »Da werden auf der Straße Kracherketten abgebrannt.«
Michael Day war wie vor den Kopf geschlagen.
»Das ist hier so üblich: Wenn eine Seele den Körper verlässt, muss man Kracher loslassen, damit der Gott der Unterwelt weiß, dass neue Geister kommen.«
»Kein gutes Zeichen«, flüsterte Michael Day, »große Truppenverbände stehen vor den Toren von Beijing, eine ganze Reihe von Fernsehstationen meldet, nicht wenige Soldaten hätten die Ausführung der Befehle verweigert und seien aus den Panzern abgehauen, alleine in der Volks-Universität stünden eine ganze Reihe verlassener Panzer. Es soll Kämpfe geben zwischen einzelnen Fraktionen beim Militär!«
»Wieso das alles?«
»Ich bete, dass es ein Gewitter gibt oder ein Erdbeben, ich bete, dass die Militärs ihr Gewissen entdecken, obwohl das wohl nicht wahrscheinlich ist.«
Michael Day wechselte das Thema: »Liao Yiwu, ich kann einfach nicht alles fahrenlassen wie du. Du liebst dein Land nicht, du liebst deine Landsleute nicht, egal, wie viel Blut fließt, du wirst dich nicht ändern.«
»Und du meinst, du liebst China mehr als ich?«
»Gut möglich.« Michael Day seufzte.
»Wenigstens habe ich an den Demonstrationen in Beijing teilgenommen, ich bin vorneweg gerannt und habe ›Nieder mit der Korruption‹
Weitere Kostenlose Bücher