Für ein Lied und hundert Lieder
Ausrede für den Putsch bei Hof!
In dieser Nacht hatte sich A Xia früher als sonst schlafen gelegt, ich machte mich auf nackten Füßen aus dem Schlafzimmer und lief zwischen Arbeits- und Wohnzimmer im Kreis. Wie von Geisterhand gelenkt stellte ich den Fernseher an, stand davor, nackt, und schaute. Der Ausnahmezustand war längst verhängt, aber die Truppen konnten noch nicht in die Stadt, hier und da noch Verbrüderungsszenen zwischen Soldaten und Volk. Überall auf dem Platz des Himmlischen Friedens Müll, Zhao Ziyang, der Generalsekretär der Partei, wie er die Studenten trifft und sich im Regen die Tränen aus dem Gesicht wischt: »Ihr seid noch jung, ihr habt noch viel Zeit … Wir sind alt, auf uns kommt es nicht an …«
Ich wechselte den Kanal, wieder das verbitterte Gesicht des guten Zhao; weiter, das verbitterte Gesicht war zornig geworden und empört – eine berühmte, unglaublich hässliche Wissenschaftlerin verlangte von den Kindern, diesen unschuldigen Lämmern, die Wölfe auszutricksen.
»Wenn die Präsidentin wäre, die wäre schlimmer als Li Peng!«, dachte ich. »Megäre!«, rutschte mir heraus.
»Ob die Revolution Erfolg hat oder nicht, ich werde nichts davon haben«, sagte ich zu mir selbst. Ich kramte ein halbes Gedichtmanuskript hervor und begann, verhalten zu brüllen.
Um A Xia nicht zu erschrecken, musste ich meine Wut im Hals zurückhalten, ich verschluckte, was mir aus den Augen und der Nase schoss, ich hielt mir die Hand vor den Mund, vor ein wildes unbändiges Husten, ich war wie aus dem Wasser gezogen. Wieder und wieder las ich ein Wort, einen Satz, und wenn ich gelächelt hatte, biss ich die Zähne zusammen. Der Fernseher rauschte, ich verneigte mich noch immer vor ihm.
»Diese Art, Gedichte zu lesen, verkürzt bestimmt die Lebenszeit«, dachte ich, aber ich machte weiter. Keine Ahnung, wie lange A Xia schon hinter mir gestanden hatte, diese Frau war ein Geist, wirklich, mal lag, mal stand sie da, ein Geist, ein Schatten.
Am 1. Juni holten Ba Tie und ich an den Yangzi-Kais unseren kanadischen Freund Michael Day ab, er schlurfte uns in heruntergetretenen Stoffschuhen entgegen, der ganze Mann muffelte nach Hammel, wie ein internationaler Bettler mit einem Lammfell um die Schultern. Seit Mao Zedongs Aufsatz »In Gedenken an Bai Qiuen« [12] waren die Kanadier von der Sucht, sich in anderen Ländern zu engagieren, geradezu befallen, und wenn ich von Michael Day spreche, dieser Kerl ist mit Herz und Seele bei der Sache. Er hatte sich auf dem Tiananmen in den Zug der chinesischen Dichter eingereiht, schrie Parolen, vorneweg und lauter als alle anderen. Danach hat er den Pulvergeschmack der Revolution auf seinem Weg nach Süden unentwegt schimpfend und fluchend verbreitet.
Als er Ba Tie und mich sah, gab er nur ein furzendes Grunzen von sich und stürzte mit hocherhobenem Kopf und großen Schritten die Himmelstreppe hinauf. So stolzierte er durch die Stadt und betrat unser Haus, die Gastgeber immer hinter dem Gast her. Hier begann das Gespenst, unbestimmt schnaubend wie ein Ochse, uns mit seinen Erläuterungen zur ausgezeichneten revolutionären Lage zu bombardieren: »Auf zehntausend Meilen sind die Flüsse und Berge rot«, zitierte er aus dem Effeff eine Parole aus der Kulturrevolution.
»Jetzt mal langsam, ja?«, sagte ich und wischte mir den Schweiß weg. »Mach dich erst mal frisch, trink einen Schluck Wasser, ein Bad wäre auch nicht schlecht, du stinkst erbärmlich!«
Michael roch an seinem Hemdsärmel, kramte in seinem Rucksack herum, doch was er zutage förderte, war kein frisches Hemd, sondern ein Taschenradio. Er setzte sich mit dem Rücken zur Wand, zog die Antenne heraus, steckte sich die Kopfhörerknöpfe ins Ohr, beugte sich wie ein professioneller Geheimagent über den Tisch und stellte das Gerät an.
»Die BBC , Interviews vom Tiananmen«, sagte er selbstzufrieden, »toller Empfang!«
Die Atmosphäre im Zimmer war plötzlich angespannt, wie auf einem Pulverfass, und Michael war die zischende Lunte. Er hörte zu, übersetzte gleichzeitig, fummelte einen Stift heraus und machte sich hastige Notizen. Danach ging es nur noch um Beijing. Ich versuchte, das Thema zu wechseln, fragte, wie es ihm in Kanada so gehe, was mit den Manuskripten sei, die er aus China herausgeschafft hatte, wie er mit der Magisterarbeit vorankomme, ob er verliebt sei und so weiter und so fort, aber jedes Mal gab es nur eine flüchtige Antwort, sofort kehrte er zu seiner revolutionären
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