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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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gute Xie und ich waren uns im Klaren, dass Wang Er der Anführer dieses Wolfsrudels war, nur seine Anwesenheit hinderte sie daran, wie ein Sturzbach über uns herzufallen.
     
    Ji Hua war eigentlich Kunstlehrer an einer Schule für die Kinder von Angehörigen einer Fabrik in Chongqing. Er mochte Literatur, er war bei der Studentenrevolte von ’89 ebenfalls auf die Straße gegangen und hatte Parolen gerufen, aber alles nichts Großes. Nachher dann kam er bei der allgemeinen Panikstimmung sogar über die Grenze nach Hongkong, wurde von der englischen Polizei überprüft und als nicht steckbrieflich gesuchtes, nicht namhaftes Mitglied der Demokratiebewegung aufgehalten, der Übergabestation Zhangmutou in Shenzhen übergeben und nach drei Monaten als illegaler Landesflüchtling in seinen Herkunftsort zurückgeschickt.
    Im Juni des nächsten Jahres erlebte die poetische Inspiration des nicht umzubringenden Ji Hua eine Hochphase, in der er ein ausgesprochen konterrevolutionäres Gedicht mit dem Titel »Zum Andenken des nationalen Trauertages« verfasste, ein paar hundert Abzüge machte und es überall verteilte. Das Schlimmste war, dass dieser Mensch sich zur Stadtregierung verirrte und das gereimte politische Flugblatt als vermeintliches Dokument in ein paar wichtige Konferenzen einschleuste. Wenn er mit diesem großmütigen Erfolg prahlte, sprühten Ji Huas Augen nur so: »Ich nutzte die Unaufmerksamkeit einer Bedienung, schlich mich in den Konferenzsaal und packte ein Exemplar meines Gedichts jedem von den Bürokraten unter sein Teeservice. Dann machte ich mich unversehrt aus dem Staub. Als ich wieder zu Hause war, habe ich in aller Gemütsruhe ein bisschen geschlafen und geträumt, ich wäre zum zweiten Mal in Hongkong und ohne weiteres aufgenommen worden.«
    »Und dann?«
    »Dann wollte ich mit dem Gedicht unter dem Hemd mit dem Zug nach Süden fahren. Aber auf dem Busbahnhof bin ich verfolgt worden. Ich griff sofort zu einem Kniff, mit dem die Untergrundparteien in unseren Filmen den Schwanz hinter sich lassen, bin plötzlich und verfrüht ausgestiegen, wechselte in einen anderen Bus, und als der Agent in Zivil heran war, machte ich mit der Hand aus dem Bus heraus ein Siegeszeichen. Ich hatte nicht erwartet, dass die Polizeibeamten in den 90er Jahren alle mit einem Handy ausgerüstet waren! Er wählte nur eine Nummer, schon zog sich das Netz zu, wer sollte da noch stumpfsinnig hinter dir herrennen!«
    »Und dann?«
    »Dann wurde ich von ein paar riesigen Kerlen hierhin gebeten, die mich untersuchten, waren alles bekannte Gesichter«, sagte Ji Hua mit Bedauern, »verdammte Scheiße, ich musste den Zeitpunkt meiner Ausreise verschieben.«
    »Man kann überall Kollegen treffen«, scherzte ich, »lass mal ein paar Zeilen von deinem Gedicht hören!«
    Ji Huas weißes Gesicht rötete sich, er stammelte ein paar Zeilen vor sich hin, dann stoppte er und erklärte: »Ein Jahr nach dem Massaker konnte man sich doch nicht mehr taub stellen! Das ist der Sinn der Zeile: ›Ein alter Mensch in den letzten Zügen greift auf dem Meer nach einem zerstörten Boot‹ …«
    Wang Er schnitt ihm das Wort ab: »In dieser Zelle hier versteht niemand etwas von Gedichten, unser Konterrevolution nimmt dich kleinen Konterrevolutionär auf den Arm. Red mal ein bisschen Chinesisch mit uns, kannst du noch was außer schrägen Gedichten?«
    »Malen.«
    »Wir haben hier keine Pinsel.«
    »Die kann man selbst machen.«
    »Du kannst Pinsel machen?!«, rief die Meute überrascht, ich wurde unruhig.
    »Tüchtiger Mann!«, Wang Ers Bewunderung war echt, »wenn du den ersten fertig hast, dann malst du zuerst ein großes Bild von mir.«
    »Wie groß?«
    »So groß.«
    Wang Er zeichnete es mit Händen und Füßen in die Luft. Als er die unsichere Miene des Malers sah, setzte er rasch hinzu: »Totenporträts sind so groß.«
    »Es gibt doch keine Totenfeier«, murmelte Ji Hua, »ich mache ein paar kleine für dich, in allen Haltungen und Posen, wie wäre das?«
    »Ich will ein großes!«, sagte Wang Er mit Nachdruck, »für die Totenfeier.«
    Die Meute erschrak, ich fühlte vor: »Wang Er, du hast doch kein Fieber? Wo gibt es denn das, dass man für einen Lebenden eine Totenfeier veranstaltet?«
    »Wenn ich tot bin, wird keiner für einen Verbrecherkönig wie mich eine Totenfeier machen«, sagte Wang Er, »ich habe schon ein paar Tage und Nächte darüber nachgedacht, der ganze Trauerritus muss ablaufen wie beim Chef des Zentralkomitees, wir haben genug

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