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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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verdammte Scheiße«, schimpfte Wang Er, »es sollte ein Erdbeben geben.«
    Die Wände waren dicht übersät mit Wasserbläschen, es war wie eine Haut, eine große, schmutzige, an die Wände genagelte Haut. Der gute Xie zeigte Anzeichen eines Sonnenstichs, sein Gesicht war violett, seine Lippen zitterten, und seine Ohren dröhnten. Ji Hua und ich halfen ihm, sich hinzulegen, und öffneten ihm den Kragen. Sein Herzschlag wurde immer schneller, die Muskeln an seinem Hals bewegten sich unregelmäßig, als wollten sie seine verhutzelte Brust durchbrechen; das Beben seiner Brust griff langsam auf seine Gliedmaßen über, und sein Atem wurde hastig.
    Ich wollte Meldung machen, aber der gute Xie umklammerte meine Hand und hielt mich auf. Mühsam setzte er sich auf, schaute mit geistesabwesenden Augen in die Runde und kämpfte gegen die herannahende Ohnmacht an.
    Wang Er ging mit einem kalten Lachen an der Seite auf und ab, ich zerrte ihn an das Eisengitter, wir starrten einander ein paar Minuten in die Augen, dann schrie er mich endlich an: »Mitleid ist ein Verbrechen!«
    Ich antwortete: »Na, dann begeh halt mal ein Verbrechen!«
    »Bei diesem Wetter brauchen wir alle Wasser, das Wasser im Bottich reicht nicht einmal, wenn einer nur eine Schale voll trinkt.«
    »Die anderen können kaltes Wasser trinken«, gab ich genauso hart zurück, »du hast das früher genauso gemacht.«
    »Das war alles nur wegen dir!«, tobte Wang Er, »er konnte den Herrn spielen, ich aber muss die Last tragen.«
    Ich war verlegen und murmelte halblaut: »Wang Er, ich bin nicht sicher, ob du ein Teufel oder ein Engel bist, aber du und ich, wir sind füreinander bestimmt. Aber trotzdem, das ist nur vorübergehend, für ein paar Monate. Ich werde mich immer an dich erinnern.«
    »Scheißegal.«
    »Der Himmel bestimmt, was mit den Menschen geschieht, wenn du mein Leben geführt hättest und ich deins, wäre das Resultat womöglich dasselbe. Du bist ein interessanter Krimineller, du gibst mir jeden Tag eine neue Lektion.«
    »Brich dir keinen ab!«
    »Doch, Literaten sind so, aber das Gefängnis hat mich zum Kriminellen gemacht. Ich werde diese Tage des Hungers nicht vergessen, diese Geschichten und Spielereien, wie du uns Kuchen gemalt hast, damit wir satt werden; ich werde diese Suppe mit dem Sauergemüse und den Glasnudeln vor einem halben Monat nicht vergessen, du hast das Große Baby die Schale die Schießscharte rausstrecken und damit klopfen lassen, und am Ende hat er damit eine volle Schüssel Glasnudeln mehr bekommen. Du hast dich so gefreut, dass du auf dem Kang Purzelbäume geschlagen hast, aber du hast keinen Bissen davon gekostet. Bis abends beim Fernsehen, da erst haben du und ich Bissen für Bissen geteilt, und es hat so gut geschmeckt wie kaum etwas auf dieser Welt.«
    »Du wirst sentimental, du Dichter«, spottete Wang Er, »eine Schale Glasnudeln, die hätte ich alleine einfach nicht geschafft, deshalb habe ich jemanden gesucht, der mir hilft.«
    »Aber damals waren in der Zelle ein gutes Dutzend Leute, die wie die Geier auf diese Schale Glasnudeln starrten; in dem Wasser, das ihnen im Mund zusammenlief, hätten wir beide ersaufen können.«
    »Jetzt hängen sie auch da wie die Geier«, sagte Wang Er mit spitzem Mund, »alle stieren auf den Bottich mit dem Wasser und warten auf ein Ende der Verhandlungen.«
    Ich warf einen verstohlenen Blick und erschrak unwillkürlich. Die Meute, nur im Schlüpfer, war jederzeit bereit, Ärger zu machen, wie Gelegenheitsarbeiter, die einen Raubzug vorbereiten. Wang Er ragte hervor und brüllte: »Faltet gefälligst eure Tüten!« Da erst begaben sie sich, wie aus einem Traum geweckt, in ihre vormalige Grundposition.
    Ji Hua führte den guten Xie bei dieser Gelegenheit zur Toilette und verpasste ihm mit dem Trinkwasser von uns allen ein heiteres heißes Bad, bei dem Xie heftig schwitzte und die Krankheitssymptome sofort nachließen. Ich selbst saß wie auf glühenden Kohlen. Einen ganzen Tag lang hielt ich den Kopf gesenkt und wagte es nicht, direkt in die Gesichter dieser nackten Meute und in ihre hasserfüllten, wilden Blicke zu sehen, wenn sie ungekochtes Wasser in sich hineinschütteten.
     
    Schließlich begann es, in Strömen zu regnen, die Zimmertemperatur fiel schlagartig, die böse Hitzigkeit wurde für eine Weile gemildert. Aber am nächsten Tag oder dem Tag danach würde das gleiche Klima wiederkehren. Der Zorn der Meute kreiste schwelend um den Bottich mit heißem, abgekochtem Wasser. Der

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