Für ein Lied und hundert Lieder
allegorischen Roman, den niemand haben wollte, »1984«, und versank nach und nach in einem Korridor ohne Anfang und Ende. Linker Hand war das reale Gefängnis, rechter Hand war das Gefängnis auf dem Papier, und das gemeinsame Ziel, auf das chinesische und westliche Gefängnisse auf Biegen und Brechen hinarbeiteten, war eine Gehirnwäsche.
Die beiden Todeskandidaten wurden rausgeholt. Die untergegangene Sonne sah aus wie Blut. Die Meute sah zu, wie sich die zwei auf den Weg machten. Ich stand auf, um ihr Erbe aufzusammeln: bergeweise gefaltete Tüten für das Kopfschmerzpulver.
Ich arbeitete mit Schmerzen in Hüfte und Rücken ein paar Stunden, stapelte die Tüten Stück für Stück in den Karton und tauschte damit eine Woche Freiheit ein.
Ich las die »Annalen der Reiche der Östlichen Zhou-Dynastie« und Pasternaks Memoiren noch einmal, diese beiden so weit voneinander entfernten Bücher rissen mich aus dem Albtraum von »1984« heraus, die asiatischen Ritter und der abendländische Dichter verschmolzen in meiner Vorstellung, sie waren die beiden Enden einer Raumzeit von 2000 Jahren und lehrten mich Geduld.
Ich versuchte, das geistige Leben eines Dichters wiederaufzunehmen, ich schrieb das »Requiem« aus dem Gedächtnis nieder und versteckte es zusammen mit den etwas über dreißig Gedichten, die ich in den letzten beiden Jahren nach und nach geschrieben hatte, und ein paar nicht abgeschickten Brieffragmenten im Rücken des festen Einbandes der »Drei Reiche«; ich las sie mir oft lautlos vor und zwang mich, an zu Hause zu denken. Ich hatte Shelleys berühmte Zeilen »If winter comes, can spring be far behind?« an meine Frau geschickt, sie hatte nicht geantwortet.
Was ich oben geschrieben habe, ist sehr erratisch, was dem Umstand geschuldet ist, dass ich in dieser Zeit nicht ungehindert schreiben konnte. Die Existenzprobleme ließen die Erinnerung an den Knast verblassen. Meine Verlobte verlor ihren Job bei einem lokalen pharmazeutischen Betrieb, sie übernahm das Teehaus meiner Mutter, aber noch vor Monatsmitte wollte meine Mutter davon nichts mehr wissen und bestand darauf, ihren Reiserwerb zurückzubekommen. Als Folge kam es zwischen Mutter und Sohn zu einer heftigen Auseinandersetzung, beide waren in der gleichen panischen Gemütsverfassung, verdammt nochmal, ich tat etwas und griff mir in meiner Verwirrung in der Küche ein Gemüsemesser. Ich hob es in Richtung der Mutter, aber das Messer beschrieb in der Luft einen Bogen und knallte auf den Tisch. Die Klinge brach, der kalt glänzende Stahl flog durch die Gegend und blieb schief in der Wand stecken. Ich schwankte, als hätte ich einen in der Krone, von der Stirn hallte Hundegebell wider. Die Mutter floh mit allen Zeichen des Entsetzens. Sie hatte von klein auf in Pekingopern gesungen, später hatte sie eine Stelle als nichtstaatliche Folklorekünstlerin, sie trat auf kleinen und großen Bühnen auf, Auftritte, die ich mit der Muttermilch aufgenommen hatte. Und heute, meine eigenen Auftritte, sind zu exaltiert, ich zeige wieder mein heimliches, mein wahres Gesicht: ein wildes Tier.
Im Gefängnis war ich vielfach domestiziert worden, mit Elektroknüppeln und Fußfesseln; die Hysterie, die von solchen Reizen, vor denen man sich nicht verbergen konnte, gepflanzt wurde, bricht von Zeit zu Zeit auf. Schreiben ist ein extrem langsamer Entgiftungsprozess, aber worin liegt seine Wahrheit? Manchmal bilde ich mir etwas darauf ein, der Verwalter der Wahrheit zu sein, aber werde ich nicht von inneren Wahrheiten zum Narren gehalten? Viele Bücher und viele Leute sagen mir, dass die Wahrheit nie existiert hat. Noch vor ein paar Tagen hat mich ein Schriftsteller aus Shaanxi zum wiederholten Mal ermahnt, meine Wahrheit sei nur die Wahrheit im Kopf von Liao Yiwu, sie sei nicht mehr als ein Material, auf das man bei der Herstellung von Meisterwerken nicht verzichten könne. Ich hätte dieses Material noch nicht einmal benutzt, um mir ein anständiges Essen zu kochen.
Soll das Leid dieser vielen Jahre vollkommen umsonst gewesen sein? Weil die Suche nach der Wahrheit am Ende nichts anderes ist als eine Materialiensammlung? Und was ist mit dieser »Materialiensammlung«, die bis heute mein Herz beben läßt?
Je länger ich lebe, umso feiger werde ich, ich bin verrückt. Bevor es zu dem versuchten Muttermord kam, hatte ich Song Yu schon zweimal angebrüllt. Song Yu und meine Mutter sind die Menschen, die mir in diesem Leben am nächsten stehen, die
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