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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Sonnenkarrees zogen längst schief auf das Dach, der verrückte Ölkopf wollte nicht aufhören, mit Streichelbewegungen in die Höhe zu springen. Der alte Wang, der große Räuber, sagte genervt: »Großvogel, du hast nicht die Sonne für dich allein gepachtet!«
    Großvogel Sun lachte kalt: »Wenn du kannst, dann geh doch raus, da ist Sonne satt.«
    Der alte Wang wollte gerade aus der Haut fahren, als die Zellentür donnernd aufging und der zuständige Wachhabende an der Spitze von einem bewaffneten Trupp Polizisten hereinstürmte. In dem heulenden Windzug begann die Zellendurchsuchung vor dem Staatsbesuch an Neujahr.
    Wir saßen mit den Köpfen in den Händen über zwei Stunden im Innenhof, wir waren steifgefroren. Aufgrund der Neujahrsdurchsuchung hatten wir alle nichts mehr zu verlieren als unsere Hosengürtel. Ich war der Erste, der gefilzt wurde, bevor ich in die Zelle zurückdurfte, und versuchte meine Habseligkeiten aus dem wüsten Durcheinander zu retten.
    »Wann wird dieses Herdenleben zu Ende sein?«, dachte ich traurig. Doch ich hielt es nicht aus, ich musste diesen Gedanken am Nachmittag des darauffolgenden Tages in meiner gewohnten Weise leise aus mir heraussingen. Es traf sich, dass der Wachhabende Regierung Yu auf Kontrollgang war, er versteckte sich draußen vor dem Fenster und hörte eine Weile zu, dann klatschte er.
    Nach dieser widerlichen Beifallskundgebung war der alte Yu, ein ausgesprochener Sangesfreund, entschlossen, die Schlagerstars des Gefängnisses zu einem Liederabend zu bitten. Ich bekannte mich geistesabwesend schuldig, aber Regierung Yu lachte nur: »Von wegen Schuld, Unsinn, nur nicht so bescheiden. Du hast doch im Sommer letzten Jahres einen Liederabend gegeben, ich bin ein Fan von dir.«
    »Die paar schäbigen Lieder, das ist doch eine Beleidigung für Ihre Ohren.«
    »Ein dummer Soldat wie ich hört vor allem schäbige Lieder«, der alte Yu hob den Elektroknüppel, schlug ihn patschend in die linke Handfläche, »letztes Jahr hast du einundfünfzig Lieder gesungen, in diesem Jahr hast du sicher schon gute hundert beisammen.«
    Ich hockte am Fuß der großen Mauer und zerbrach mir den Kopf und begann zu singen, von den in der Kulturrevolution beliebten Liedern mit Zitaten des Vorsitzenden Mao bis zu russischen Volksliedern, von alten Melodien aus den 50er und 60er Jahren bis zu den neuen Songs aus den 80ern, dazwischen packte ich noch irgendwelche Lieder aus der Schule und über die Freundschaft zwischen China und Vietnam. Das Rotfellpublikum bildete einen Kreis um mich, sie beobachteten heimlich die Miene von Regierung Yu und machten entsprechend begeisterte Luftsprünge, während der alte Yu völlig hin und weg in seinem Rattanstuhl lehnte. Der Abend senkte sich herab, die Elektrodrähte oben knisterten. Ich sang mechanisch weiter, mit ausdruckslosem Gesicht und monotonem Rhythmus und ohne die geringste Dynamik. Der Wind stach mir wie Nägel in den Mund, auch meine Lieder waren Nägel, blutbefleckte Nägel, die ich einen nach dem anderen ausspuckte.
    »Das geht so nicht, die Stimme ist ja rau wie von einem Schmied, ein bisschen weicher, so musst du singen«, der alte Yu erhob sich und gab sich wie eine Frau: »Der Mond im Herbst, der uns vereint, weil er zu Haus und an der Grenze scheint …« [51]
    Die Rotfelle applaudierten und schrien da capo, der alte Yu riss die Augen auf: »Schon gut, schon gut, ich weiß, was ich kann und was ich nicht kann.« Die Arschkriecher verstummten auf der Stelle.
    Ich brauchte einen Schluck Wasser.
    Der alte Yu sagte: »Das Wichtigste bei einem Popstar ist die Stimme, du hast jetzt neunundreißig Lieder gesungen, dir brennt der Rachen sicher wie Feuer, gieß dir jetzt ein bisschen Wasser ein, wenn die Stimme einmal reißt, dann verwandelt sie sich.«
    »Regierung Yu, zwischen uns ist keine Feindschaft.«
    »Nur keine falsche Bescheidenheit, ich bin der Pferdekenner Bo Le, der ein Tausend-Meilen-Pferd entdeckt hat, ich hätte nicht gedacht, dass du nach noch nicht einmal der halben Strecke den Vorderhuf verlierst!« [52]
    Ich sang weiter. Der Himmel war eine große bösartige Geschwulst, und das menschliche Gehirn war eine bösartige Geschwulst auf dieser bösartigen Geschwulst. Die Zuschauer zitterten im Winterwind wie die Schildkröten, sie tappelten heimlich mit den Füßen, um sich zu wärmen. Ich umklammerte meine Schultern wie so einer von diesen Modesängern, die aussehen wie Puff-Louis, und musste aus diesem Ledersack von einem Körper

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