Für ein Lied und hundert Lieder
Lieder herauspressen. Kehle und Zunge waren trocken, blockiert von einer Wucherung. Ich sang, was das Zeug hielt, aber ich wurde immer leiser; die Lippen bewegten sich brav, auf und zu, auf und zu. Aber aus einer leeren Brust kann man keine Milch pressen.
Er würde mir den Elektroknüppel über den Schädel ziehen, kein Zweifel, ich sprang mit einem Schrei hoch, jetzt war mir alles egal, entriss ihm mit beiden Händen den Elektroknüppel und drückte ihn mir in den Schoß. Nachdem ich ein paar Sekunden dem stechenden und verkohlt stinkenden Schmerz widerstanden hatte, gab der Knüppel mit einem Klicken den Geist auf.
Regierung Yu war außer sich, der Popstar wurde von den Sangesfreunden zu Boden und ihm die Hose vom Leib gerissen. An meinen senkrecht stehenden Afterhaaren spürte ich das Wehen der Hochspannung.
»Singen oder nicht singen?«, schrie der alte Yu.
»Nicht singen.«
Ich bellte wie ein Hund, sie fickten mich mit dem großen Elektroknüppel in den Arsch.
Der Strom drückte sich durch das verrottete Fleisch über den Hals nach draußen, ich war wie eine gerupfte Gans, unter extremen Schmerzen sang ich mit zusammengebissenen Zähnen wie in Trance: »Der Ostwind weht, die Kriegstrommel geht, wer hat jetzt Angst vor wem? Das Volk nicht vor den amerikanischen Imperialisten …« Der alte Yu erstarrte, dann bog er sich vor Lachen: »Ich habe Angst vor dir, der Frosch als Sängerkönig.«
Das Frühlingsfest 1992 war gerade vorüber, als meine Mitangeklagten einer nach dem anderen entlassen wurden. Sie waren fast zwei Jahre festgehalten worden, dabei gab es keine zwei Fingerbreit Beweise. Es hieß, Wan Xia sei es, als er in die bunte Welt zurückgekehrt sei, ganz schwindlig geworden, er wagte es nicht, eine große Straße zu überqueren, und wenn er ein Polizeiauto sah, fing er an zu rennen. Mit finanzieller Unterstützung von Freunden brachte er sich wieder auf die Reihe, er wechselte den Beruf und verdient jetzt mit der Herstellung von Büchern seinen Lebensunterhalt, selbst im Traum, so schwöre er, stolpere er nie wieder in die Falle.
Wans berühmteste Knastgeschichte ist die, wie er und ein anderer sich gegenseitig Ohrfeigen gaben, im Knast eine häufige Strafe für irgendwelche Regelverletzungen. Zuerst standen die beiden Kontrahenten einander mit lachendem Gesicht gegenüber, der Austausch von Ohrfeigen geschah wie bei diplomatischen Anlässen, höflich, sanft, fast wie ein Streicheln. Als der Wachhabende das mitbekam, schrie er immer wieder »halt«. Aber die sanfte, homoerotische Stimmung zwischen den beiden blieb die gleiche, auch wenn sie sie hinter zusammengezogenen Augenbrauen und wütenden Blicken verbargen, die Backpfeifen waren wie eine sanfte Brise oder ein Kuss. Da blieb dem Wachhabenden nichts übrig, er musste ran und ein Beispiel geben, von seinen beiden schweren Ohrfeigen im Zeichen des Realismus torkelten die beiden haltsuchend durch die Gegend, das schmeichelnde Lächeln blieb ungefähr zwei Sekunden auf den Gesichtern, dann verwandelte es sich in ein tierisches Winseln.
Sieben, acht, neun, zehn, der Vorhang zu einer großen, langsamen und schweren Ohrfeigenschlacht ging auf, Blut floss, die beiden zogen mit wirbelnden Flügeln in den Kampf. Bis sie sich gegenseitig die Gesichter zu Trockenpflaumen und die Trockenpflaumen weiter zu Pflaumenmus geschlagen hatten, da taten sich die beiden zusammen, wie gekochte Exkremente, die auf dem Boden Blasen schlagen. Aber die Fäuste und die Füße hoben und senkten sich weiter, mit letzter Kraft …
Einige waren der Auffassung, Wan Xia hätte nicht zurückschlagen sollen. Der russische Dichter Brodsky hat, wie ich ja schon erwähnte, den berühmten Spruch aus der Bibel »Wenn dir jemand auf die rechte Backe haut, dann halte ihm auch die linke hin« so verstanden, dass extreme Fügsamkeit dazu führen könne, dass Gewalt vollkommen ihren Sinn verliert. Das Problem ist, dass in einem Land, dem jedweder Sinn für Religion fehlt, diejenigen, die Gewalt ausüben, niemals darüber nachdenken, ob diese »Gewalt« einen Sinn hat, sie wollen aus der Gewalt lediglich ihr tierisches Vergnügen ziehen. Und die Opfer, wenn die einmal von der Richtung abweichen und nicht die gewünschte Reaktion zeigen, verlieren nicht nur das Gesicht, dann geht es ihnen ans Leben.
Wichtig ist weder irgendein Sinn noch irgendeine Theorie, wichtig ist das Überleben.
Von meinen Mitangeklagten wurde Li Yawei als Letzter entlassen. Weil er einen weiten Weg hatte,
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