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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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ich nicht missen kann. Sie verstehen nichts von Literatur, aber sie sind aus tiefstem Herzen stolz auf mich. Song Yu hat durch ihre Liebe sogar mein Schreiben beeinflusst, wofür sie sich Vorwürfe machte, aber ich hätte die beiden fast in Stücke gerissen.
     
    Am 11. Januar 1992 zog die Staatsanwaltschaft die Abschrift meiner Anklageschrift zurück. Dass das auf eine Intervention des englischen Premierministers Major zurückzuführen war, erfuhr ich erst später. Das Ganze wurde im Eilverfahren durchgezogen. Mitte März, nachdem meine Mitangeklagten alle von den Organen der Öffentlichen Sicherheit »belehrt und auf freien Fuß gesetzt« worden waren, wurde mir durch den Richter Yan Guangfu eine Abschrift der neuen Anklageschrift ausgehändigt. Die Anklagepunkte waren die gleichen, aber ich war als einziger Angeklagter übrig geblieben.
    In diesen Tagen gingen mir unzählige Gedanken durch den Kopf, es fing an zu schneien, im Innenhof häufte sich das unschuldige Weiß ein paar Zoll hoch, die Meute kauerte auf dem Kang, doch ich hatte das Gefühl, dass die Hitze in meinem Körper zunahm. Jeden Morgen stürzte ich in aller Frühe als Erster zu dem kleinen Wasserbecken und goss mir eine Schüssel von dem eiskalten Wasser über den Kopf, das Eis schürfte mir die Haut auf. Ich hatte gar keine Zeit zu zittern und Schmerz zu empfinden, sondern rannte wie besessen auf der Stelle, meine Knie hob ich wie Hufe bis zu meiner Brust, ich riss das Maul auf wie ein Alligator, um Luft zu bekommen, ich machte Ah Ah, als würde ich schlucken. Die Welt vor meinen Augen wechselte die Farbe, Weiß wurde Grün, ein zwielichtiges Grün. In meiner Vorstellung bin ich immer wieder über Beijing, Chengdu und Kanton hinweggeflogen, ich habe die Innere Mongolei überquert und Tibet, das weite Grasland und die Wachposten an der Grenze. Ich war frei, ich träumte nicht mehr von Flucht. Aber meine Füße waren noch immer ungezügelt, würden meine Frau und mein Kind mein Vagabundenleben teilen wollen?
    Auch die Sonne war grün, aus ihr wuchs ein Büschel Gras. Die Wolken sahen aus wie Hasen, die aus ihrem Bau herauskamen, ich wollte ihr Fleisch essen, wollte das gewaltige Hasenfleisch der Sonne essen, ich streckte den Hals, doch die Füße sanken nach unten, wenn man zu lange eingesperrt ist, will jede Nervenfaser aus dem Körper heraus, um sich Kühlung zu verschaffen.
    Ganz unwillkürlich ging ich in die Knie, der gerade eingetroffene alte Wang, ein großer Räuber, stützte mich.
    »Beim Training geht es nicht um Leben und Tod, mach ein bisschen halblang!«, mahnte er.
    Ich hatte mir die Kniescheiben angeschlagen, sie schwollen an, ich konnte nicht mehr laufen, der alte Wang brachte mir bei, wie man gegen die Wand Kopfstand macht: »Jeden Abend und jeden Morgen einmal, das bringt das Blut schneller in den Kopf«, sagte er, »damit bleibt man wach im Kopf.«
    Ich sah die Welt verkehrt herum, von dem Oberfenster wurden gerade ein paar Sonnenlichtkarrees ausgesiebt. Die Meute legte nach und nach ihre Arbeit nieder, sie rangelten um einen Platz, wo sie ihre fahlen Glatzen in Licht, das zwischen die Mauern fiel, sonnen konnten. Aber es war nur wenig Licht für so viele Menschen, sie bildeten eine vor- und zurückdrängende Reihe von summenden Fliegen, am Ende entschieden Faustschläge und Fußtritte über die Rangordnung.
    Das Sonnenlicht neigte sich unumkehrbar, die Gefangenen verstummten einer nach dem anderen, zuletzt stand noch unser Knasttyrann, der Großvogel Sun, vor unseren Blicken da wie ein Kranich unter Hühnern, mit gerecktem Genick und geballten Fäusten, und hielt seinen unkultivierten Fettsack zwischen zwei Sonnenkarrees. Seine Gesichtszüge verschwammen in der Blende, er sah aus wie ein in Tee eingelegtes Ei mit schwarzer Haut, er legte immer mehr Zeug unter seine Fersen, er kam einem dieser Balletttänzer mit den dicken Köpfen und den großen Ohren sehr nahe, aber er konnte nichts dagegen tun, das Licht kletterte von seinem Unterkiefer Stück für Stück über seine Lippen, seinen Nasenrücken und seine Schläfen. Dieses alte Kind stieß einen langanhaltenden Klageton aus, die Zunge leckte einmal um seinen Mund herum, es sah aus, als wolle er sich die letzten Reste des Sonnenlichts wie Marmelade einverleiben.
    Ich kam mit hochrotem Gesicht aus meinem Kopfstand, meinen ganzen Körper erfüllte ein tiefer Friede, also machte ich den Mund auf und mahnte den Großvogel: »Eine Handvoll Jahre und das Feuer ist aus.«
    Die

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