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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Durch die Astgabeln, die uns dicht umstanden, flogen und hüpften die Spatzen wieder und wieder durch die Elektrodrahtrollen; die Sonne ließ eine Ohrleiste durch eine Naht in den dunklen Wolken sehen, die kleinen Scherben des Sonnenlichts waren wie eine Schar von Spatzen, die direkt aus dem Himmel kamen, ich war erfüllt von dem Hell-Dunkel, dem flatternden Flügelschlag des Lichts! Was war mir wichtig? Die Familie oder wollte ich den wirbelnden Wind, der über mein Zuhause strich?
    »Wir sind auf diesem Planeten alles Fremde, der Körper ist der Seele Grab. Aber wir töten uns auf keinen Fall selbst, um uns in der Flucht zu retten, weil wir doch Geschöpfe Gottes sind …«
    Ich hatte vergessen, wo diese Sätze eigentlich standen, genauso, wie ich nicht wusste, wo Gott eigentlich herkam, aber sie bewegten mich immer wieder.
    Und wenn jemand von Dingen erschüttert wird, die schlagartig sind und hereinbrechend, dann ist er ein Dichter.
    »Noch bin ich ein Dichter«, würgte ich heraus, »ach, mein Gott, ich will nicht länger hierbleiben!«
     
    Der Tag meiner Verhandlung war sonnig, mit einer leichten Brise, ich trug ein weißes Hemd und eine blaue Hose. Da mir die Hände auf den Rücken gefesselt waren, wurde ich von zwei Gerichtspolizisten auf den Gefangenentransporter gepackt.
    »Benimm dich ein bisschen!«, warnte mich ein kleingewachsener Polizist. Der großgewachsene bleckte die Zähne und lachte und machte zum Spaß seinen Taschenelektroknüppel knisternd an, vom Kopf des Knüppels sprang ein dunkelblauer Lichtbogen.
    Ich senkte den Kopf und harrte aus. Vielleicht nur noch ein paar Stunden, und meine Karriere als Gefangener würde beendet sein, ich wollte wohlbehalten an Leib und Seele heimkommen. Der Wagen raste unnötig, das dramatische Geholper drehte mir den Magen um. Als ich aus der Wagentür fiel, stand ich auf dem gewaltigen Sportplatz vor dem Strafgerichtshof von Chongqing-Stadt. Als ich hochschaute zu der roten Fahne mit den fünf Sternen, die im blauen Himmel flatterte, pochte mein wild schlagendes Herz, wie ein Grobian an die Tür donnert.
    Ich nutzte eine Pinkelpause, um mich wieder zu sammeln, ich war nicht darauf gefasst, dass ein Gerichtspolizist kommen und mir beide Arme wieder hart auf dem Rücken in Fesseln legen würde. Protest war sinnlos, ich wurde in den Gerichtssaal gestoßen und verhört.
    Das war ein Theater, das über 1000 Zuschauer aufnehmen konnte. Auf der über drei Ellen hohen Bühne saßen wie an der Schnur aufgereiht der Gerichtsvorsitzende, die beiden Schöffen, der Gerichtsschreiber, der Ankläger des Staates, der Sekretär der Staatsanwaltschaft und der Anwalt, insgesamt sieben Personen. Ich stand vor der Bühne und schaute zu ihnen auf wie ein Essensrest, der in einem endlosen hohlen Maul schmilzt. Der Gerichtspolizist hinter mir zog sich lautlos zurück, ein böser Wind erhob sich in den vollkommen leeren Zuschauerrängen und hinterließ in meinem Hinterkopf eine Spur von menschlichen Zähnen. War ich mitten im »Requiem«? In einem Auf-und-ab-Wogen leerer Stühle saß die Schimäre eines Publikums und über alledem ein analoges Theater und Publikum. In Schichten aufgehäufte, durchsichtige Schädel drängelten sich wie mäandernde Bergketten um das letzte Gericht, das von einem sternengeschmückten Kosmos umzingelt war.
    Der Staatsanwalt Ding Jian verlas mit seiner berufsmäßig lauten Stimme die Anklageschrift, seine Stimme hallte wider und brach lange nicht ab. Hin und wieder neigte er die Schulter grüßend Richtung Richter, Richtung des imaginierten Publikums in der Leere des riesigen Saals.
    »Er tröstet die Gespenster vom 4. Juni«, dachte ich, »jemand hat sie mit Gedichten getötet.«
     
    Das Drama der gerichtlichen Untersuchung begann.
    Richter: Angeklagter, haben Sie gegen die Straftat, deren der Staatsanwalt sie bezichtigt, etwas einzuwenden?
    Angeklagter: Ja. Zunächst hat der Staatsanwalt in einem offiziellen gerichtlichen Dokument in großem Umfang aus meinen Tagebüchern und Briefen zitiert, ich erhebe Einspruch dagegen, dass von sogenannten verbrecherischen Gedanken auf verbrecherische Taten geschlossen wird. Nach den Gesetzen unseres Landes dürfen Tagebücher und Briefe und ähnliche private Dokumente nicht für eine öffentliche Anklage und Strafzumessung verwendet werden. Dann hat der Staatsanwalt in seinem Dokument ein diffamierendes Vokabular benutzt, das mich in meiner Menschenwürde herabsetzt, wie »wahnsinnig«, »flennen«, »anmaßende

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