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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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war er zwei Tage und zwei Nächte mit Schiff und Bus unterwegs, weshalb der Chef der Öffentlichen Ordnung von Youyang den Herumtreiber gar nicht aufnehmen wollte.
    Am Morgen des 3. März, der eisige Regen ging einem durch Mark und Bein, saß die Meute wie gewöhnlich in der düsteren Zelle und faltete Tüten. Ich aber stellte meine abstehenden Ohren auf und hatte das Gefühl, das Getröpfel von der Dachtraufe falle mir direkt in die Eingeweide. Yawei fing in der Nachbarzelle an zu reden, und ich hörte bebend und mit bangem Herzen zu: »Bartgesicht, ich werde gehen, ich werde nicht mit dir vor Gericht stehen können. Um ehrlich zu sein, ich habe jetzt schon so lange im Knast gesessen, ich möchte wirklich, dass sie mir den Prozess machen, das wäre eine große Genugtuung.«
    Etwas Hartes verschloss mir die Kehle, ich machte vergeblich den Mund auf.
    »Soll ich irgendjemandem etwas ausrichten? Sag schnell!«
    »Nein.«
    »Auch nicht A Xia und deiner Kleinen?«
    »Besuch sie für mich.«
    »Das werde ich.«
    Die Welt war wüst und leer, ich war gar nicht richtig bei mir und wusste nicht, was tun. Die anderen Gefangenen drückten durch den Boden der Zelle, wie Statuen aus Stein, und sie versanken. Die Zellentür nebenan knarrte, nach ungefähr zehn Minuten knarrte sie noch einmal, und Li Yawei, der Penner, war wirklich weg und würde vielleicht nie wieder in die Wirklichkeit zurückkehren.
    Ununterbrochen tropfte Wasser aus der Dachtraufe, die Frühlingshochwasser stiegen und fielen, ich wollte immer noch weiter die Tritte dieses Hallodris fassen, wie er in die Freiheit zurückkommt. In meiner Desillusionierung, die sich so viele Jahre hinzog, habe ich geschrieben, meinen Träumen nachgehangen und ein längst vergessenes Gespräch geborgen:
    »Bartgesicht, gib mir zwanzig Kuai, ich kaufe auf dem Schiff was zu trinken.«
    »Gut, ich überweise es dir direkt von meinem Konto.«
    »Die Polizeibeamten, die mich nach Hause begleiten, kümmern sich um was zu essen, aber zu trinken gibt es nichts, und ich will nicht ihren Schnaps trinken.«
    »Du hast jetzt so viele Jahre nichts getrunken, pass auf!«
    »Du pass selbst auf dich auf.«
     
    Nach dem endlosen Hin und Her von Wolken und Regen hatte sich dieser besonders große Fall einer konterrevolutionären Clique in einen Einzelfall aufgelöst. Bald würde die Verhandlung stattfinden. Mein Anwalt, den ich lange nicht zu Gesicht bekommen hatte, ließ sich ein paarmal sehen, er hatte seinen Stil geändert, war er vorher ein Winkeladvokat gewesen, der aus allem ein Geheimnis machte, so enthüllte er mir jetzt einen Berg Interna, die die Freiheit näher rückten. Verlockt von diesen günstigen Vorzeichen, schrieb ich einen gewaltigen Text von 20 000 Zeichen, »Eine Rechtfertigung von ›Massaker‹ und ›Requiem‹«, in die ich sämtliche Verantwortungen und Auswirkungen hineinpackte, gleichzeitig aber nur »einen politischen Fehler« zugab. Mein Anwalt setzte seine alte Lesebrille auf, arbeitete sich mit zusammengezogenen Augenbrauen durch diesen Text eines hundertprozentigen Stubenhockers und hörte gar nicht mehr auf zu seufzen: »Sie geben nichts zu? Dann hat die Regierung wohl einen Fehler gemacht? Ich meine, was Sie angeht? Denken Sie daran, in politischen Fällen macht die Regierung niemals Fehler.«
    »Sind Sie selbst nicht zu den Rechtsabweichlern geschlagen worden?«
    »Ja, aber die Rehabilitierung war viele Jahre später«, erklärte er mir, »ich meine damit, dass damals die Regierung einfach keine Fehler gemacht hat.«
    Dazu konnte ich nichts sagen. Mein Anwalt zog einen Stapel Briefe heraus, von meiner Frau, meiner Schwiegermutter, meinem Vater und von Zhongzhong. Alle ermahnten mich, ich solle etwas zugeben. Zhongzhong schrieb: »Es ist vollkommen gleichgültig, was du selbst denkst, du solltest es einfach der Form halber machen, damit du irgendwelchen strafrechtlichen Maßnahmen entgehst und sie dich freilassen. Deine Freunde sind alle schon wieder draußen, du musst nicht weiter für irgendjemanden die Verantwortung übernehmen. Liu Shaoqi ist auch zu Kreuze gekrochen, außerdem bist du keine revolutionäre Partei, da gibt es kein Problem mit den Prinzipien der Organisation.«
    A Xia schrieb: »Mach, was der Anwalt sagt, die Freiheit ist nicht nur für dich wertvoll, Miaomiao hat ihren Vater noch nie gesehen.«
    Ich zerdrückte das Briefpapier zwischen den Fingern, saß am Steintisch im Garten und schaute gedankenverloren auf die hohe Mauer ganz in der Nähe.

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