Für ein Lied und hundert Lieder
Leute zum Verhör, Wang Xiaoyue war eine halbe Stunde weg, dann war er wieder da. Kurz darauf kam schnaufend der Zwerg in unsere Zelle und gab die Nachricht bekannt, dass »von heute an Nr. 147 nicht mehr arbeitet«.
Wang Xiaoyue saß aufrecht und ehrfurchtsvoll auf dem Kang, der Zwerg trat auf ihn zu und zog ihm das Kinn nach oben und schleuderte ihm boshaft den Satz entgegen: »Sieht aus, als hättest du Mumm, Kleiner. Aber dann hab auch richtig Mumm!«
Die Meute sah dieser spannungsgeladenen Szene mit großen Augen und offenem Mund zu. Am Abend fragten der alte Wang und ich heimlich, was denn los gewesen sei. Wang Xiaoyue sagte: »Ich war kaum im Anklageverlesungszimmer, da bin ich eingeschlafen, die Offiziellen konnten nicht weitermachen, also fragten sie, was los sei. Da habe ich ihnen wahrheitsgemäß berichtet, wie es bei uns aussieht. Ich sagte, dass wir jeden Tag weit über zehn Stunden arbeiten müssten, dass wir auch noch Überstunden machen, nachts, und dass ich eigentlich überhaupt keine Zeit hätte, über meinen Fall nachzudenken. Die Offiziellen sagten, warum ich das nicht im Gefängnis sagen würde. Das sei doch schließlich keine Institution der Umerziehung durch Arbeit. Ich sagte, die Wachhabenden dort hätten nicht die Fälle im Kopf, sondern nur Geld, und wenn man nicht arbeite, werde man gekracht, viele haben ihre Köpfe dagelassen, vor lauter Schlafmangel. Die Offiziellen waren ganz schön sauer und fluchten herum und haben mich zurückbringen lassen. Da stand er in der Halle und schimpfte auf die übelste Weise, daraufhin war der Gefängnisdirektor alarmiert.«
Dass Wang Xiaoyue die Zeichen der Zeit nicht erkannte, rächte sich nach über einem Monat. Sein Briefverkehr wurde offiziell unterbrochen, und er wurde häufig mitten in der Nacht aus der Zelle zitiert und zusammengeschlagen. Einmal kam er zurück und war bis zur Unkenntlichkeit entstellt, aber er strahlte mich mit einem außergewöhnlichen Lächeln an.
»Du bist wohl lebensmüde«, mahnte ich.
»Dann bin ich halt lebensmüde«, sein Lächeln erstarrte, er zeigte seine spitzen Zähne, »ich lebe auf der Straße, seit ich ein Kind bin, als ich erwachsen war, wurde ich Soldat, ich lebte stets außerhalb meiner Familie. Ich hatte nie für meine Mutter gesorgt. Hier im Gefängnis habe ich keine größere Sorge, als dass meine alte Mutter meinetwegen in Verruf gerät, es ist, als drehe mir jemand ein Messer im Herzen herum. Und wenn dieser Hund von einem Wärter es wagt, ununterbrochen »fick deine Mutter« zu schreien, wie konnte ich anders, als ihm den Todeskampf anzudrohen, sag selbst?«
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, obwohl ich diesen Jungen, der den Mut hatte, sich mit dem Wachhabenden Li zu prügeln, von Herzen bewunderte. Wang Xiaoyue warf mir vor, ich sei aalglatt, ich sagte: »Das stimmt.« Aber in mir drin stieg etwas sehr Heißes an die Oberfläche. Wang Xiaoyue starrte mich zähneknirschend an, wohl oder übel wandte ich mich von diesem Spiegel, der mich blendete, ab, ich taugte nicht mehr zum Helden.
»Literaten!«, ächzte Wang Xiaoyue. Ich wäre am liebsten auf ihn losgegangen und hätte ihn erwürgt oder ihn wenigstens zusammengeschlagen. Ich wollte sagen, wenn ich zehn Jahre jünger wäre, dann hätte ich mich so entschieden wie er. Aber ich sei schon mein halbes Leben Literat, meine beiden kurzsichtigen Augen und mein überflüssiges Fett hätten mich dazu bestimmt, die zweite Hälfte meines Lebens mit dem Verkauf von Literatur zu fristen.
»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«, schrie ich unkontrolliert, »ich habe das ›Massaker‹ geschrieben und das ›Requiem‹ und ich sitze im Knast. Eine Ameise gegen den gewaltigen Fleischwolf eines ganzen Staates hat nicht mehr Möglichkeiten. Aber was hat es für einen Nutzen, wenn ein kleiner Mensch freiwillig in den Tod geht?«
»Die Kleinen müssen große Träume haben«, belehrte mich Wang Xiaoyue mit hochgerecktem Hals, »das ist das Motto des alten Ji. Als ich ihn im letzten Jahr das erste Mal sah, wurde ich, der Elitesoldat mit der Kampfsportausbildung, beeindruckt. Mit Herz und Seele wurde ich Leibwächter, ich habe ihn abgeschirmt, als er dreimal nach Hongkong über die Grenze ist, um mit den relevanten Organisationen zu verhandeln, das ist alles geplatzt. Von wegen Demokratiebewegung, das war alles eine Bande von Weicheiern, die sich vor dem Tod fürchtete und gleichzeitig etwas Besonderes sein wollte. Der alte Ji hat ihr Angebot, dort
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