Für ein Lied und hundert Lieder
Arroganz«, »konterrevolutionäres Geschwür«, »Bannerträger, der die Geister der Toten beschwört« und so weiter. Das erinnert an die großen Kritikversammlungen und die Wandzeitungen der Kulturrevolution. Ich hoffe, dass sich das Rechtswesen vom Gift des kulturrevolutionären Klassenkampfes befreit hat und die Bedeutung des Gesetzes stärkt. Außerdem, auch wenn der Staatsanwalt glaubt, dass das Gedicht »Massaker« Dichtung als Wahrheit ausgibt, wie kommt er dann auf eine Formulierung wie »Bannerträger, der die Geister der Toten beschwört«?
Richter: Ich ermahne den Angeklagten, sich nicht bei Formulierungen aufzuhalten. Ich frage Sie noch einmal, geben Sie die Ihnen zur Last gelegten Straftaten zu?
Ich schwieg erhobenen Hauptes.
Richter: Zur Beweisaufnahme.
Der Gerichtspolizist hielt mir die Bänder und die Manuskripte des »Massakers«, des »Requiems« und das Video des »Requiems« vor die Nase. Ich hob unbewusst die Arme, aber ich hatte keine Möglichkeit, die Dinge, die ja mir gehörten, zu berühren. Trauer erfüllte mich, ich hatte nicht erwartet, dass ich in einer solchen Situation, da ich ohne Hände war, meine Werke, in die so viel Herzblut geflossen war, als Indizien identifizieren würde.
Im Anschluss kamen die Protokolle der Geständnisse meiner ehemaligen Mitangeklagten und Indizienbeweise; die strafrechtlichen Gutachten von renommierten Experten. Die Unterzeichnenden waren ein Professor der Northwest-Normal University und ein paar Autoritäten für moderne chinesische Dichtung, insgesamt sieben Personen.
Angeklagter: Ich habe dem Gericht bereits die »Rechtfertigung von ›Massaker‹ und ›Requiem‹« übergeben, wofür ich die volle Verantwortung übernehme.
Richter: Eine große Anzahl von Beweisen belegen, dass am 4. Juni 1989 in der Frühe auf dem Platz des Himmlischen Friedens nicht eine Person zu Schaden kam, wogegen also richtet sich Ihr »Massaker« und Ihr »Der traurige Fall vom 3. Juni«?
Angeklagter: Den Geist.
Richter: In beiden Gedichten taucht mehrmals der Ausdruck »Henker« auf, wer ist damit gemeint, die Truppen der Volksbefreiungsarmee im Ausnahmezustand?
Angeklagter: Gemeint sind die Truppen im Ausnahmezustand. Aber in einer Situation, in der es im Zentralkomitee zwei Meinungen gab …
Richter: Das stimmt nicht. Was die Einschätzung des und den Umgang mit dem 4. Juni angeht, gab und gibt es im Zentralkomitee nur eine Stimme. Sekretär, nehmen Sie das ins Protokoll auf!
Ich gab mein Vergehen offen zu. In China werden sämtliche politischen Prozesse nach einer vorformulierten, legalen Formel durchgeführt, außerdem gab es keine Mitangeklagten, kein Publikum, bei diesem Geheimprozess in Abwesenheit der Geschichte hatte ich keine Zeit, für irgendwen die Verantwortung zu übernehmen. An meiner rechten Hüfte quälte mich ein wiederkehrendes Jucken, ich zerrte an meinen Fesseln herum, um mich zu kratzen, wobei ich mit dem ganzen Körper lächerliche Verrenkungen machte. Das Fräulein Protokollantin lachte in meine Richtung. Der Gerichtspolizist hielt mich fest und brachte mich mit seiner Beinarbeit dazu, gerade zu stehen. Mein Anwalt begann mit seiner asthmatischen Verteidigung. Richter und Staatsanwalt verließen den Raum für eine Pinkelpause; auch die anderen steckten die Köpfe zusammen und streckten sich; lediglich die beiden Schöffen blieben eisern an ihren Plätzen, wie tönerne Buddhastatuen. Das schmückende Beiwerk der Schöffen rekrutierte sich, wie es hieß, aus pensionierten ehemaligen Angestellten und Arbeitern des Gerichts, sie saßen jeden Monat mehrere Male hier und verdienten sich so ein kleines Zubrot.
»Bald wird alles vorbei sein«, dachte ich. Ich sah alles vor mir, als sei es gestern gewesen. Michael Day, Li Yawei, das »Massaker« von einem kaputten Tonbandgerät bildete den Tatort. Ein Haus voller Rauch. Abschiede am Kai. Die Theatergruppe des »Requiem«. Zeng Lei, das Hochhaus der Filmakademie und die unerhörte Aufnahmebaracke. Kameras der Anklage von hoher Auflösung, wie es hieß, konnten aus zehntausend Metern Höhe den Titel auf einer Zeitung aufnehmen. Wan Xia, wie er in einer Disko am Fremdspracheninstitut von Sichuan ein paar kräftige, große und hübsche Mädchen aussucht, alle zum Lachen und zum Sabbern brachte, woraufhin ich in einer Weinlaune bei Taiheng zu Hause das Sofa bestieg und folgende Rede hielt: »Eines nicht fernen Tages werden die Studenten des 4. Juni rehabilitiert, die Revolution wird siegen, ich
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