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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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herauszubekommen, dann legte ich sie beiseite, schlug das Buch auf und hatte für eine Weile das Gefühl, der Atem einer längst vergangenen Zeit wehe mich an. Für ein paar Tage war ich in diesem unwirklichen, reizbaren Zustand, schließlich zog ich die Strohknoten meiner Bettstatt auseinander und legte mir das erste Orakel meines Lebens selbst, heraus kam das Zeichen für »Rückkehr«, in den Erläuterungen stand: »In Sieben kommt seine Rückkehr. Wohin es auch geht, es wird von Nutzen sein.«
    Die Sieben war die Zahl, in dem das Dao des Himmels seinen Zyklus wiederholte. Wieder und wieder spielte ich Flöte, im Traum, im Klang der Flöte wuchs im Gefängnis Gras, ich war umgeben von einer langen Kette von Hügeln, die aussahen wie Mantous, der Mond sah aus wie eine Silberkrabbe, die hinter dem Eisendrahtverhau zur Seite wegläuft. Mir war klar, dass ich bei einer so kurzen verbleibenden Reststrafe nicht in die innersten Geheimnisse des Gefängnisses eindringen konnte, aber ich hatte in meinem Tran Gräber gesehen, Gräber, die in Wellen heraufbrandeten, die Gespenster von Ausbrechern krümmten den Rücken unter den Gräbern und gaben ein Wimmern von sich, das dem Klang meiner Flöte sehr ähnlich war.
    »Wer spielt da?«, fragte ich. Eigentlich war ich selbst zu einem Flötenrohr geworden an den Lippen des blauen Himmels.
     
    Solschenizyn hat in seinen Romanen bereits eingehend den Tag eines Gefangenen beschrieben, doch in meinem Fall konnte man die Leben der bereits gestorbenen Gefangenen nicht nach Tagen zählen, alle Tage waren wie ein Wurf Ferkel, einer sah aus wie der andere, das Verstreichen der Zeit war kaum auszumachen – es sei denn, es zeigte sich etwas abseits des von der Regierung festgelegten Tagesablaufs und der entsprechenden Verhaltensregel, wie eine Schlägerei, jemand geriet mit einem Gefangenenboss aneinander, schrieb eine Beschwerde und dergleichen. Ich hatte den Beschwerdestar des Gefängnisses Nr. 2 gesehen, er hatte in über 20 Jahren beinahe 200 Beschwerden geschrieben, aber es hatte nicht mehr bewirkt, als wenn ein Stein im Meer versinkt.
    Ich hätte sehr gern mit ihm gesprochen, aber in einem Gefängnis darf man nicht aus der Spur gehen. Er war jeden Tag eingekeilt in den Menschenstrom, der beim Essen anstand und draußen vor dem Gatter vorbeiströmte. Unzählige Hände hatten mir unzählige Male diese bucklige und rachitische Gestalt gezeigt: »Ein Gefangener, der sich beschwert, bekommt keinen Straferlass«, seufzte mein Gruppenführer, »am Ende wird ihn sein eigenes Geschreibsel in den Abgrund ziehen.«
    Das Wiedersehen mit dem alten Xie war eine außerordentliche Überraschung. Draußen hatte er eine hohe politische Position gehabt, deshalb bekam er auch im Knast eine Sonderbehandlung. Eines Tages stürmte er auf einmal in den Bezirk der Neuankömmlinge und traf sich mit mir im Korridor zu einem ganz vertrauten Gespräch. Als ich in Erinnerungen schwelgte, ermutigte er mich kategorisch, wieder mit dem Schreiben anzufangen, und ließ durchblicken, dass er selbst an einem Buch über die dunklen Machenschaften des Beamtenapparats arbeitete, und garantierte mir, er werde das Ganze über geheime Kanäle nach draußen schaffen können. Ich war reichlich bestürzt, dennoch, was mich noch mehr erschütterte, dass er damit angab, er sei dabei, eine Arznei zu entwickeln: »Wenn die Mischung stimmt, nehme ich das einen Monat lang, der ganze Körper fängt an zu eitern, die Fingernägel, die Körperbehaarung gehen aus, und man zeigt alle Symptome von Lepra. Zu gegebener Zeit wird die Regierung nicht umhinkönnen, mich auf Kaution draußen behandeln zu lassen. Über diese Form der Selbstverstümmelung durch eine unheilbare Krankheit will ich hier raus, raus aus dem Land.«
    Mir standen die Haare zu Berge.
    »Halt nur ja den Mund!«, schärfte er mir ein.
    »Das hättest du mir eigentlich nicht erzählen sollen, Xie«, sagte ich verärgert, »mit seinem Leben macht man keine Scherze!«
    »Solange man lebt, braucht man ein Ziel«, widersprach er, »wir werden sehen, ob ich das durchstehe und mich für das erlittene Unrecht werde rächen können.«
    Ich seufzte: »Im Traum habe ich schon viele Feinde umgebracht.«
     
    Am 6. November fielen drei Gefängniswärter vom Himmel und brüllten donnernd nur drei Wörter: »Liao-Yi-Wu!«
    Ich hatte mich vom ersten Schreck noch nicht erholt, als mir schon einer den Koffer packte. Anschließend nahm man mir das Namensschild, riss mir die

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