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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Gefängnissachen herunter, und im Handumdrehen waren wir zur Tür hinaus und auf der Treppe. Es ging über den Sportplatz zur Produktionsbrigade.
    »Verlegt?«, wurde ich von einer vertrauten Stimme aus der Ferne gefragt. Ich nickte und erinnerte mich schlagartig an die Anklageschrift, an das Urteil und das Plädoyer, die sich der Politkommissar Huang vor über einem halben Monat ausgeliehen hatte. Diese Rechtsdokumente waren wichtige Unterlagen für einen Sträfling, ich war in einer erbärmlichen Lage und versuchte, sie zurückzuverlangen.
    »Politkommissar Huang musste zu einer Konferenz«, erklärte der Polizist.
    »Ich kann warten.«
    »Die Verlegung ist ein Befehl von oben, du musst gehen.«
    »Die Urteilsbegründung ist die Eintrittskarte für Strafgefangene«, widersprach ich, »wenn ich keine Eintrittskarte mehr habe, in welchem Knast soll ich dann noch sitzen?«
    Die Beamten stutzten kurz, dann fingen sie schallend an zu lachen: »Hast du noch mehr solche Sprüche auf Lager?«
    Wir gingen an vier Wachposten vorbei, und ich wurde zwangsweise in Marsch gesetzt. Ein Militärjeep brachte mich schließlich weg von dieser fürchterlichen, für ihren sauren Regen, ihre Gefängnisse und ihre Folterwerkzeuge berühmt-berüchtigten Stadt in den Bergen, nach Norden, auf Serpentinen. Die Beamten versprachen mir verschiedentlich, sie würden für mich die »Hinterlassenschaft« beschaffen, »mit diesem Dingsda kannst du dann in Zukunft rehabilitiert werden«, verhöhnten sie mich.
    Ich schloss resigniert die Augen – wie oft würde sich diese Bewegung in den Menschen, die nach mir kamen, noch wiederholen. »Ich bin schon lange kein Dichter mehr gewesen«, dachte ich auf einmal.
    Inspiration, bei Leibesvisitationen konfisziert
    kommt nicht wieder
    selbst der Erinnerung
    werden von den Fesseln Löcher geschlagen …

Gefängnis Nr. 3
    Nach vier Uhr Nachmittag kam der Gefangenenwagen im Kreis Dazhu in den Daba-Bergen an. Die Straßen waren verlassen und schmutzig, das offensichtliche Gegenteil der ungewöhnlich lauten Großstadt Chongqing; es passte zu seiner geographischen Lage, das Gefängnis Nr. 3, und es unterschied sich von Gefängnis Nr. 2 dramatisch.
    »Wie ein zerfallener Tempel«, sagten die Beamten, gleich darauf gaben sie am Gatter Bescheid und fuhren hinein.
    Der Nordwind pfiff, im inneren Kreis war niemand zu sehen, aber man konnte immer spüren, dass einen aus dem Dunkel Augen anstarrten. Die begleitenden Beamten hielten vor dem Gebäude der Gefängnisverwaltung und erledigten die Übergabeformalitäten, etwa eine Viertelstunde später kam ein Intellektueller in Uniform aus dem Gebäude, in der Hand eine Warenprüfliste, und befahl mir, in den zweiten Kreis einzutreten.
    Direkt vor mir war ein stinkender Wassergraben, mir wäre es fast hochgekommen, die Abwässer der Fabrik der Umerziehung durch Arbeit und die Lebensabfälle wurden über diesen Kanal aus dem Gefängnis geleitet. An der Straße neben dem Kanal war ein wenig Militär und gab dem einheitlich grauen Hintergrund ein paar grüne Tupfer. Doch mein Endziel führte von einer Abzweigung rechts vom Kanal weiter nach oben. Erst als ich mit meinem Koffer auf der Schulter einem Polizisten auf den Fersen folgend ächzend den zweihundert Meter langen Anstieg bewältigt hatte, sah ich den felsenfesten Kern dieses heruntergekommenen Tempels. Die Anlage war gegen den Berg gebaut, mit einer weit über zehn Meter hohen Mauer, wie eine alte Räuberhöhle in den Bergen, in denen sie sich schon seit hundert Jahren verschanzten. Ich schaute zu dem steil in den Himmel ragenden Wachturm hinauf, nahm Haltung an und machte Meldung. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis der Wachsoldat mit einem Gewehr im Anschlag den Oberkörper aus dem Felsenfenster streckte und uns durchwinkte. Es war wirklich, wie es so schön heißt: »Wenn ein Mann den Pass bewacht, kommen Zehntausende nicht durch.«
    Wir traten durch das Tor des Räubernestes, überquerten einen Sportplatz, der gut und gern ein paar tausend Leute fassen konnte. Die vier Seiten des Platzes waren mit Wachposten gepflastert, die naiven und unschuldigen Spatzen versammelten sich zwischen dem Elektrozaun und der Bühne des Vorsitzenden auf der rechten Seite. Wenn man die Hand hob und sie aufscheuchte, bedeckten sie den halben Himmel. Das war der Ort, an dem Gefangene und Spatzen abwechselnd Versammlungen abhielten, es war die Zeit der Herbsternte, die Zeit, das Getreide und das Gemüse zu trocknen.
    Es ging noch

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