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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Stelle in die Hocke. Der Gruppenführer neben uns, ein Mann namens Zhang und selbst Gefangener, begrüßte ihn: »Na, du Spinner, wie ich höre, bist du ein guter Wahrsager, also machst du es irgendwann mal für mich?«
    Li Bifeng sagte: »Ich kann das nur mit dem Buch der Wandlungen.«
    »Na, dann wirfst du halt Schafgarben.«
    »Du machst es doch nicht wie der alte Mao und lockst die Schlangen aus ihren Höhlen? Und rennst dann auf dem Fuß zur Regierung und erzählst ihnen, ich würde hier feudalistischen Aberglauben machen?«
    »Was heißt hier ›Schlangen aus ihren Höhlen‹? Die alte Abgottschlange da zwischen meinen Beinen ist schon zehn Jahre nicht mehr aus ihrer Höhle gekommen.«
    »Bei der Rechtsabweichlerkampagne siebenundfünfzig hat der alte Mao damit vor aller Augen jongliert …«, wollte Li Bifeng erklären, aber da war die Meute längst am Lachen.
    Ich zog ihn weg. Auf dem großen Hof mit dem Basketballplatz hockten und standen die Gefangenen zusammen und aßen ihre Nudeln; auf der Terrasse im ersten Stock stand ein Gefängniswärter von mittlerem Alter, er war in einen Militärmantel gehüllt.
    »Sie beobachten uns«, warnte ich.
    »Das macht nichts, das ist einfach eine professionelle Angewohnheit bei den Polizeihunden«, sagte Li Bifeng, »in diesem Kreis sitzen politische Gefangene aus mehreren Generationen, sie müssen ihre Wachsamkeit erhöhen. Der dürre Kerl dort am schwarzen Brett sieht die meiste Zeit aus wie ein lethargischer Opiumraucher. Aber beim Essen ist er flink wie ein Taschendieb. Wenn er ein bisschen Zeit hat, schnappt er sich seine kaputte Gitarre und singt Liebeslieder, er spielt schauderhaft. In den letzten beiden Tagen hat er sich in so ein Schlagersternchen vom Land verliebt, sie heißt Yang Yuying, ununterbrochen spielt er ihr bekanntestes Lied »Die Berge sind voll Liebe, die Bäche voller Lachen«, aber dieser Bitterkürbis findet nicht das kleinste bisschen Liebe und auch nicht das kleinste Lachen. Er war Agent, Agent der Guomindang, hättest du ihm das angesehen?«
    »Heute gibt es noch Agenten?«, zweifelte ich.
    »Leute wie du und ich erkennen das natürlich nicht. Aber wenn du mit ihm in Kontakt kommst, wirst du merken, dass er wirklich anders ist als normale Menschen. Er lacht immer so verschüchtert, aber er wird niemals auch nur ein halbes Wort über seinen Fall rauslassen. Bis einmal, beim Studium der ›Erziehungszeitung‹, da haben alle erfahren, dass da ein Spion mit ihnen eingesperrt ist; der Chef des Spionagerings ist in der ersten Zeit nach der Befreiung untergetaucht, das war ein Oberst; in den achtziger Jahren hat er dann über Verwandte den Kontakt zum taiwanischen Geheimdienst wiederaufgenommen, hat entsprechende finanzielle Unterstützung bekommen und in Chongqing seine Geheimdienstzentrale aufgebaut. Er selbst nannte sich ›Leiter der Zentrale‹ und hat ein gutes Dutzend Geheimdienstmitarbeiter herangezogen. Unnötig zu erwähnen, dass er Informationen über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zusammentrug, das versteht sich von selbst, aber sie machten auch eine Aktion, die weltweit Aufmerksamkeit erregte: Vom Dach eines großen Gebäudes gegenüber dem Seeperlenplatz in Kanton entrollten sie ein gewaltiges, über zwanzig Meter langes Transparent: ›Die drei Prinzipien des Volkes vereinen China!‹ [57] Wie ich gehört habe, war jedes Zeichen mindestens so groß wie der Tisch des Vorsitzenden bei einem Staatsbankett.«
    »Das waren Agenten?«
    »Das reaktionäre Transparent zog am helllichten Tag mehrere Stunden lang die Aufmerksamkeit auf sich, bevor es von einem pensionierten Kader entdeckt wurde, dem die Politik am Herzen lag, sehr eigenartig. Wahrscheinlich hing um das reaktionäre Transparent so viel Reklame, dass es keiner bemerkt hat.«
    »Woher weißt du das alles?«
    »Wichtige Verbrechen stehen in der Zeitung, in allen Einzelheiten, das ist im ganzen Gefängnis rundgegangen. Bei der großen Versammlung habe ich den Chef von unserem Spion Zhang und den anderen gesehen, ein ausgemergelter alter Mann mit durchsichtigen Augen. Unser Zhang wurde als Letzter angeklagt, sieben Jahre; der Alte bekam lebenslänglich, bei Spionen gibt es keine Strafminderung. Ihre Losung war: ›Grünes Land aus der Wüste‹.«
    »Nur, dass er in der Wüste verdurstet ist«, seufzte ich.
    »Wenn es keine Wiedervereinigung beider Seiten der Taiwan-Straße gibt, dann ist es egal, wo man stirbt«, schloss Li Bifeng und wechselte das Thema: »Dem alten

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