Für ein Lied und hundert Lieder
Später ist mir das Zuhause davongetrieben worden. Wenn ich in meinem »Massaker« klage: »Unser Haus ist eine warme Sehnsucht. In diesem Wunsch lass uns sterben!«, dann habe ich dafür die Saat gelegt.
Nur Kinder sind ein Nachweis für die Zeit; jetzt, wo mein Kind nicht bei mir ist, gibt es nur einen Nachweis für meine Zeit, das Schreiben aus der Erinnerung.
Miaomiao ist jetzt zehn Jahre alt, ich zähle es an den Fingern ab, aber wir waren insgesamt keine zwei Monate beisammen. Als ich entlassen wurde, brachte mich die Polizei nach Fuling zurück, es war kurz vor Neujahr, aber A Xia kam lange nicht. Vor gut einem halben Jahr gab es ein paar schwer zu beschreibende Veränderungen, sie schrieb mir einen Brief, in dem es hieß: »Mein älterer Bruder hofft, dass wir uns bald scheiden lassen, es wäre gut, wenn du deinen ständigen Wohnsitz nach Chengdu verlegen könntest!« Das klang, als ob das nichts wäre, als ginge es um eine Alltäglichkeit. Ich weigerte mich natürlich, ich hatte immer noch die Hoffnung, dass sich das zwischen uns zerbrochene Geschirr würde kitten lassen, ich hatte mich noch nicht abgewandt. Ich band mir ein Tuch um den Kopf, klopfte mit der Flöte in der Hand an die Tür meiner Schwiegermutter, die beiden waren gesund und munter.
Das erste Mal hielt ich mein eigen Fleisch und Blut in den Armen, die Kleine runzelte die Stirn und starrte mich verwirrt an. Meine Schwiegermutter sagte, wie A Xia bei ihrem Besuch im Gefängnis, immer wieder zu ihr, sie solle »Papa« sagen, ich senkte den Kopf, mein Blick war leer, zwei große Tränen liefen mir über die Wangen und fielen auf des Gesicht des Kindes. Sie erschauerte vor Schreck und fing an zu weinen.
Anschließend begleitete ich sie ein paar Tage, wedelte mit einer Puppe aus dem Westen, spielte mit ihr Verstecken, lag auf dem Bauch und ließ sie auf mir reiten, lief mit ihr huckepack durch die Straßen, kaufte ihr alles mögliche Zeugs.
Als ich mit ihr herumtollen wollte, bekam sie auf einmal Angst vor mir.
Anlass war mein kahlgeschorener Kopf. In all den Jahren war meine Schädeldecke fast poliert worden, dazu der wilde Bart, ich sah aus wie ein alter Zausel. Um ein wenig jünger zu wirken, bin ich in einen Frisörsalon und sagte gewohnheitsmäßig: »Alles ab!«
Am Anfang haben Vater und Tochter noch geschmust, Miaomiao stand bei mir und passte auf, spitzte ihr Mäulchen und sang das Lied vom »Entenküken in der Produktionsbrigade«. Aber nach einer Weile wurden ihre kleinen Augen immer größer, sie drehte sich um und lief davon. Ich zahlte und lief ihr rasch hinterher, es hätte nicht viel gefehlt, und die Kleine wäre unter ein Taxi gekommen. Ich stürzte mich auf sie wie ein alter Adler, griff sie mit den Krallen und schleppte sie weg. Sie schrie und schlug in Panik um sich, die kleinen Hände zerkratzten mein Gesicht. Passanten blieben stehen und gafften uns an, ich lief mit ihr im Arm davon, die Hangstraße hoch, ich schnaufte wie ein Ochse.
»Glatzkopf! Eierkopf!«, schrie sie, »ich will keinen Glatzkopf!!«
»Ich bin dein Papa!«, ich war gereizt und außer Atem.
»Du bist ein Verbrecher!«, schrie Miaomiao weiter, »ich will keine Glatze, ich will keinen Verbrecher als Papa!«
Wieder zu Hause war ich gezwungen, ein rundes, schwarzes Käppi aufzusetzen, wie es alte Leute tragen, um Miaomiao zu beruhigen. Am Abend, der Mond ging im Osten auf und spiegelte sich vor dem Haus im tief seufzenden Wasser des Wu, verfiel ich auf den Gedanken, von der Terrasse aus auf den Mond zu zeigen und meinem Töchterchen gut zuzureden: »Miaomiao, schau mal der Mond, sieht er nicht aus wie die Glatze von deinem Papa?«
Miaomiao lachte: »Der Mond ist eine Glatze? Das ist lustig!«
Ich stimmte in ihr Lachen ein: »Papa ist der Mond, das ist ein noch schöneres Spiel. Willst du den Mond nicht streicheln?«
Miaomiao sagte: »Du bist nicht der Mond, ich streichle deine Stinkiglatze nicht.«
Meine Schwiegermutter wies sie zurecht: »Miaomiao, red nicht so einen Unsinn. Das ist dein Papa! Sag Papa!«
Miaomiao machte einen steifen Hals und sagte: »Er ist ein Eierkopf, und er ist ein Verbrecher!«
A Xia hat mich auch später noch mehrfach im Gefängnis besucht, aber ich habe sie nicht mehr gesehen, sie hat nur irgendetwas für mich abgegeben, das Wichtigste war eine Flöte und »Das Buch der Wandlungen«. Damals war mir beides fremd. Ich nahm zuerst die Flöte, blies ungeschickt eine halbe Ewigkeit darauf herum, ohne einen Ton
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