Für ein Lied und hundert Lieder
hier sind gezählt«, sagte er, »ich will immer noch über die Grenze!«
Ich kann mich nicht genau erinnern, was er noch sagte. Die folgenden Tage brachte mir Ji Hua dampfende Schweineleber mit Fischaroma. Das war das Beste, was ich in meinem Leben je gegessen habe – Ji Hua war immer für eine Überraschung gut, ’94, ich war noch nicht lange entlassen, fiel ein Zettel mit einem Friedenswunsch über den Postweg vom Himmel, der Leser musste nicht lange herumraten, es war seine launige Handschrift. Im Jahr seiner Entlassung hatte er sich ins Ausland abgesetzt und war nach einer längeren Wanderung im kalten Dänemark gelandet.
»Ich habe gehört, du hast mit dem Sowieso Streit gehabt? Das ist wirklich schade, aber was soll’s, das ist eben dein Temperament«, schrieb er. Er schien immer noch vor mir zu stehen, auf dem Gefängnissportplatz: »Der Winter in Nordeuropa ist unvorstellbar kalt, man verkriecht sich in seine Wohnung und liest, ungefähr wie in Beijing.«
Was nie in Vergessenheit geraten darf, dass ich endlich meine kleine Miaomiao gesehen habe. Es war an einem Nachmittag, die Herbstsonne schien, da wurde ich plötzlich geholt, ging mit dem Wachhabenden über den Sportplatz und verließ den inneren Kreis. Unter dem in den Himmel ragenden Stadttor drängte sich eine Menschentraube, wegen meiner Kurzsichtigkeit erkannte ich sie erst, als ich fast dort war. Zhou Zhongling hatte immer noch wie ein Pate Liu Taiheng, Gou Mingjun, Dong Nan und die anderen im Schlepptau, und neben Zhongzhong stand A Xia, ganz in Schwarz, mit dem Kind im Arm. Unser alter Freund Liang Ping stand neben ihr und bediente sie. Diesen unerwarteten Besuch hatte er arrangiert, über einen Freund im Justizministerium, der den gleichen Nachnamen trug wie ich. Ich schüttelte den Freunden zur Begrüßung die Hände, war aber zu aufgeregt, um die Grüße, die sie übermittelten, richtig mitzubekommen; ich vermied es nach Möglichkeit, den Blicken A Xias zu begegnen, ich wusste, dass ich aussah wie ein Mörder. Ich streckte meine eiskalte Hand nach dem Kind aus, aber sie kauerte sich panisch in die Arme ihrer Mutter. A Xia versuchte, sie mir zu geben, aber sie schrie nur: »Nein! Nein!«
A Xia redete ihr gut zu: »Miaomiao, sag Papa, das ist dein Papa, Papa Bartgesicht.«
Ich lachte böse, ich hätte lieber etwas gütiger gelacht, wie ein richtiger Papa, aber ich bekam es nicht hin, meine Wangen verzerrten sich, es war schwer zu ertragen, ich war an solche Gefühle nicht gewöhnt! Verdammte Scheiße! Die kahle Stirn glänzte wie ein Spiegel, das Ganze war ein Albtraum: Der Teufel saugte durch den Spiegel der Stirn die Seele des Kindes auf.
Ich hatte meinen Arm bereits um die Hüfte des Mädchens gelegt, aber sie klammerte sich verzweifelt an den Arm A Xias, sie verschloss sogar ihre Augen vor mir. Sie wollte sich in den Bauch ihrer Mutter verkriechen, eintauchen in das warme und tiefe Fruchtwasser. A Xia fing an zu weinen und übertrat unwillentlich die Absperrung. Der Wachsoldat trennte uns auf der Stelle, das waren zwei Staaten. Als Liang Ping das mitbekam, setzte er schnell ein Lachen auf und stellte mir mit Vorbedacht seinen Freund Liao vom Amt für Umerziehung durch Arbeit vor, woraufhin die Gefängnisverwaltung ihm ausnahmsweise die Genehmigung erteilte, in Begleitung von A Xia hereinzukommen.
Er kam ungefähr zehn Meter weit, da suchte der Wachhabende in den vielen Häusern am Weg im zweiten Stock einen Unterrichtsraum für uns aus, wo wir in Begleitung von ein paar Polizisten ein privates Gespräch führen konnten. A Xia redete immer nur von dem »Papa Bartgesicht«, sie klang wie meine eigene Witwe, und ich zwang das Kind mit starrem Gesicht, Papa zu mir zu sagen.
Im Handumdrehen war diese Szene vorüber, im Herbstwind schaudernd waren die Frau und das Kind wie ein Boot im Fluss, sie entfernten sich immer weiter, die Erde wurde unvermittelt überschwemmt, ich tappte durch die Brandung und ging zurück. Mir fiel ein, wie vor etlichen Jahren ein Grünschnabel mit Bus und Schiff von Chengdu in die Berge nach Fuling fuhr, damals trug A Xia die gleichen schwarzen Sachen und wartete den ganzen Nachmittag am Kieselstrand des Flusses. Der Wind hob ihr langes Haar in die Höhe, inmitten der zuckenden Menschenköpfe konnte ich aus der Ferne einen schwankenden schwarzen Punkt erahnen. Ich sehnte mich danach, an ein Ufer zu kommen, an diesem Ufer eine Familie zu haben oder doch wenigstens meine Vagabundenfüße an ein Ufer zu setzen.
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