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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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dort nach und nach Dutzende von Leuten umsonst aßen, tranken und logierten. Im Sommer 1997 hat Li Bifeng dann der ausländischen »Human Rights in China« und einigen anderen Medien über einen Streik und eine Autobahnblockade von mehreren tausend Arbeitern und Angestellten verschiedener Betriebe in Mianyang berichtet, die von der Militärpolizei mit harten Maßnahmen beendet wurde, und damit die internationale Öffentlichkeit aufgeschreckt; wie es heißt, hat die Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen aus diesem Anlass eigens eine Untersuchungskommission nach Mianyang geschickt.
    Nach diesen Ereignissen war Li Bifeng ein Jahr lang auf der Flucht, um einer Verhaftung durch die Behörden der Öffentlichen Sicherheit zu entgehen. Eines Tages schließlich hat er sein Heimweh nicht mehr ausgehalten und ist das Risiko eingegangen, heimlich nach Mianyang zurückzukehren, um Frau und Kind zu sehen. Es dauerte nicht einmal eine halbe Stunde, und er war entdeckt. An einer Mautstelle waren zwei Polizeiautos herangerast und hatten ihn eingekeilt.
    Wegen Wirtschaftsbetrugs wurde er zu sieben Jahren verurteilt. Ich weiß ganz genau, dass es keinerlei Sinn hat, einen Anwalt aufzusuchen, aber ich habe auf wiederholtes inständiges Bitten seiner Frau trotzdem einen Verteidiger engagiert. Jetzt hat er schon zweieinhalb Jahre seiner zweiten Haftstrafe abgesessen, bei einem Treffen hat mir Wang Jianhui erzählt, dass das Geld und die Briefe, die er ihm schicke, alle zurückkommen.
    Leben und Tod sind weit, über die Legende von Li Bifeng kann man ein dickes Buch schreiben. Leider konnte ich hier nur ein paar flüchtige Umrisse auf das Papier werfen, um an den Leidensgenossen zu erinnern.
     
    Lassen Sie mich zum 6. November 1992 zurückkehren.
    In dieser Nacht hing ich mit dem Kinn auf dem Bettrand und starrte lange aus dem pechschwarzen Fenster, an den Wänden und an der Decke schimmerten kalte Sterne, wie Lampions aus einer anderen Welt. Ich blinzelte ein paarmal, und das Eisenbett fing an zu fallen, ich kroch durch ein Grabgewölbe, irgendwelche verirrten Seelen schwammen wie Fische aus der Tiefe der Erde heran. Die hohen Mauern stürzten lautlos zusammen und wurden wieder zu gewaltigen Grabgebirgen, die Geister schlugen mit ihren Schwanzflossen und schwammen die wilden Grasbüschel auf den beiden Grabhügeln entlang Richtung Himmel, das All war immer noch ein leeres Gefängnis, weshalb sie sangen: »Der Himmel über den befreiten Gebieten ist klar.«
    In meiner Verwirrung sang ich mit, plötzlich kümmerte sich ein Ding um mich, mit Fischleib und Menschenkopf, es sagte von sich, es sei der bedeutende Schriftsteller Hu Feng. [63] Ich konnte mich nicht erinnern.
    »Ein Justizirrtum«, seufzte er, »ich habe mein ganzes Leben im Knast gesessen, selbst nach meinem Tod habe ich im Knast gesessen, deine Bettstelle hier, auf der habe ich geschlafen, vor zwanzig Jahren.«
    »Ich lasse sie Ihnen.«
    »Ich bin in dem Gefängnis unter dir, ich muss zwanzig Stockwerke hinauf, bis ich bei dir bin.«
    »Und dieser seltsame Fisch, der da unbedingt um mich herumwuseln muss, das sind nicht Sie?«
    »Das ist mein Gespenst, Geister können die Verbindung von Körper und Seele auflösen, Menschen können das nicht.«
    »Gespenster haben einen Körper? Wo?«
    »Auf dir.«
    Ich zwickte mich kräftig, doch ich spürte nichts, aber Hu Feng rief: »Ach herrje, warum kneifst du mich?«
    Ich hatte die Hosen voll, aus dem Boden wölbten sich Köpfe und schauten sich um, Gespenster in verschiedenfarbigen Theaterkostümen hatten das Grabgebirge in einen aufgewühlten Ozean verwandelt, Hu Feng sagte eilig in meinem Unterleib: »Ich muss mal.«
    Ich sprang von meinem Bett und schiffte hinter die Tür, ein gewisser Li, ein Ausschussmitglied, der Nachtschicht hatte, sah das zufällig vom hinteren Fenster aus. Ich schüttelte meinen Schwanz in seine Richtung, drehte mich um und ging wieder ins Bett. Ich war noch ganz im Tran, aber es dauerte nicht lange, und die Alarmglocke schrillte hysterisch.
    Ich spannte den Körper an, faltete wie ein Traumwandler meine Decke und sprang aus dem Bett. Dann stürzte die Meute aus dem Raum, mischte sich an der Treppe mit anderen Arbeitsgruppen und schoss wie eine frisch losgetretene Schlamm- und Gerölllawine donnernd durch den Gebäudeeingang auf den Sportplatz. Sie stellten sich in Reih und Glied auf, dann Appell, dann wurde Essen gefasst. Ich hob den Kopf und sah zum Himmel, der Mond war hell, Sterne gab es nur wenige.

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