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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Der Brigadeleiter vom Dienst brüllte von der Terrasse im ersten Stock herunter: »Jetzt ist es 3.40 Uhr, in zwanzig Minuten seid ihr mit dem Essen fertig, pünktlich um vier geht es zur Arbeit.«
    Die Arbeitsgruppen standen in Kreisen zusammen, tranken ihre dünne Reissuppe und kauten an ihren Mantous, ein ohrenbetäubendes Geschnaufe. Ich war so müde, dass ich beinahe in die Reissuppe gefallen wäre, also steckte ich den Kopf in kaltes Wasser. Pitschnass, wie ich war, ließ ich den Blick über den Platz schweifen, im Schatten des Mondes führten die Teufel einen Veitstanz auf, es sah aus, als würde ich immer noch träumen.
     
    Wenn es Tag wurde, zählten die Gefangenenbrigaden in langen Einzelreihen ab und marschierten unter den strengen Blicken der Wachsoldaten aus der Felsöffnung. Danach hörte man die Befehle eines Wachhabenden, der die Brigaden führte, schnell formierten sich vier Kolonnen, die voller Kampfeswillen den Hang hinabschritten. Als wir in die z-förmige Straße eingebogen waren, übten wir uns mit noch größerem Kampfeswillen im Stechschritt. Dem Mond, der im Westen stand, fiel vor Lachen die Kinnlade herunter, die Meute aber tat so, als wäre das Ganze eine Truppenbesichtigung, und brüllte dem Mond mit bockigem Stiernacken wütend entgegen: »Eins-zwei-eins! Eins-zwei-drei … vier!«
    Das Gelände der Fabrik war in der Ferne auszumachen, aus dem Stechschritt wurde Gleichschritt, und als wir am großen Gatter ankamen, machte das Ganze mit einem Rums halt. Als die Reihen fertig ausgerichtet waren, bekräftigte der eulengesichtige Sekretär, der für die Produktion verantwortlich war, mit der falschen Stimme eines Eunuchen die Wichtigkeit der Disziplin für Arbeit und Sicherheit und verkündete, wir könnten die Formation auflösen.
    Wie gut ausgebildete Feuerwehrleute zog die Meute Stiefel und Helme an und eilte auf geradem Weg in die hochaufragenden Werkshallen. Die zweite Produktionsbrigade goss vor allem Autoersatzteile, nach wenigen Minuten öffnete der Schmelzofen brüllend sein gewaltiges Blutmaul. Ich hielt mir eine Weile die Ohren zu, passte mich an diesen endlosen Lärm an, um dann anschließend sofort die ehrenvolle Aufgabe zu bekommen, die Halle zu fegen, den zwei Meter langen Besen waagerecht vor der Brust.
    Noch zwei andere hatten den gleichen Job, einer groß und kräftig wie ein Ochse, der andere kurz und stämmig, jeder hatte eine kleine Bank, auf der er in irgendeiner dunklen Ecke ein Nickerchen machte. Ich konnte gar nicht schnell genug der Bande der Drückeberger beitreten, doch im Halbdunkel wurden wir von der Eule, die ihre Runde machte, geschnappt. Nach einer Belehrung verkündete er, man würde uns 1,5 Umerziehungspunkte abziehen und als Strafe müssten wir dreißig Pfund Schrott sammeln.
    Der über 1,80 Meter große Riese zitterte wie Espenlaub, aber Yang Wei, der kleine Politische, durchforstete mit strahlendem Gesicht die alten Eisentonnen, zog mich um die Werkshalle herum, und wie wir so herumhingen, stellte er mir weitere Gefangene des 4. Juni vor: den Schlosser Hou Duoshu, ehemaliger Dozent an der pädagogischen Hochschule des Kreises Da, einer der wichtigen Initiatoren der Studentenunruhe in seiner Gegend. Er hatte acht Jahre bekommen. Als ich ihn sah, ließ er gerade die Zange und das Buch, das er in Händen hielt, sinken und schaute mit einem überheblichen Blick unter dem Dachvorsprung hinauf zum Mond; den Gießer Lei Fengyun, ursprünglich Postgraduierter an der Xi’nan Normal University, das Rückgrat der »Unruhen« in Chongqing, er hatte aktiv Demonstrationen, Hungerstreiks und Petitionen der Hochschüler geplant. Aus Entrüstung hatte er schließlich am Eingang der Universität eine Ankündigung geklebt, in der er seine Landsleute aus Guang’an aufforderte, sich sofort in ihre Heimat abzusetzen und das Grab der Vorfahren von Deng Xiaoping zu öffnen, was ihn landauf, landab bekannt machte und ihm harte zwölf Jahre einbrachte. Als ich ihn hier traf, hielt er mit einem Pfannenwender in der Hand die Stellung, von der Brille reflektierte ein roter Schein; den Gießer Pu Yong, ursprünglich stellvertretender Bürgermeister einer Gemeinde im Kreis Nanjiang, dem das private Drucken, Kleben und Versenden von Aufrufen zur Rehabilitation der »Aufrührer« vom 4. Juni zehn Jahre eingebracht hatte. Im Augenblick war er damit beschäftigt, mit Lei Wengyun zusammen den Kies zu einer Plattform einzuebnen, ein großer Mundschutz bedeckte sein knochiges Gesicht; Xu

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