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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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verströmen, Nahrung und Hintergrund, auf uns wird herumgetrampelt, wir werden besudelt, Tränen fließen zu den Wurzeln, doch die Geschichte ist ein alter Mann, er hört das unaufhörliche Weinen in der Finsternis nicht.
     
    Das Abendessen wurde erst nach fünf ausgegeben, der Himmel war grau, die Gefangenen hatten Zeit zur freien Gestaltung. Es gab literarisch-künstlerische Zellen, wo man Erhu spielte, Gitarre, Flöte, manche sangen auch aus vollem Hals, lauter populäre Lieder, »Die Erde, ach, sich dreht, sich dreht, ein Narr, wer fühlt und nichts versteht«, so in der Art, eigentlich das Liebeslied eines Mädchens, aber wenn es aus den rauen Kehlen von Gefangenen im Umerziehungsvollzug gebrüllt wird, stehen einem die Haare zu Berge. Auf sämtlichen Gängen und Fluren des Gebäudes war die Hölle los, eine Flöte spielte das uralte »Die Sonne sinkt im Abendton/vom Schießen kommt das Bataillon«, und der mit der Erhu spielte die noch ältere traditionelle Melodie »Das Wasser des Flusses«, alle gingen mit dem Kopf mit und berauschten sich an sich selbst. Li Bifeng und ich wurden von dieser schwülen Massenunterhaltung aus dem Gebäude getrieben und drehten im Hof unsere Kreise. Um uns herum war ein Kommen und Gehen von Gefangenen, einige saßen am Fuß der Mauer, unser Rundgang war so schnell, dass er fast einem kleinen Lauf gleichkam, manchmal hatte man das Gefühl, mit geneigtem Oberkörper durch ein Meer von Menschen zu drängen.
    »Schau dir die beiden Irren da an«, schimpfte jemand lachend, »die rennen im Ochsengatter Richtung Beamtenprüfung.«
    Wir sahen einander an und lachten. Der Himmel verdunkelte sich immer mehr, als wolle es anfangen zu schneien. Wir waren schon bei der dreißigsten Runde.
    »Warum stellen Sie mir nicht ein paar von den 89ern vor?«, fragte ich auf einmal.
    »Die auf dem gleichen Weg sind, werden Sie ohnehin kennenlernen«, sagte Li Bifeng, »aber die anderen nicht unbedingt.«
    »Und Sie?«
    »Was ich?«
    »Ihr Fall. Und Ihr Gesicht. Ich habe das Gefühl, es ist auf der einen Seite groß, auf der anderen klein, Unterkiefer und Stirn sind nicht symmetrisch, was ist da los? Ist das von Natur aus so?«
    »Das waren die Schläge des Grenzschutzes«, sagte Li Bifeng düster. »Während der Studentenunruhen habe ich häufig auf der Straße Reden gehalten und Gedichte geschrieben und sie auf Handzetteln verteilt. Als das Volkskaufhaus in Chengdu in Flammen aufging, war ich vor Ort. Damals gab es Polizisten in Zivil, die die Leute aufhetzten, Brände zu legen, ich vermutete ein Komplott und bin weg. Nach dem 4. Juni hat die Regierung Truppen in Bewegung gesetzt, um die Unruhen zu befrieden, sie warfen Nebelbomben, verhafteten Leute, auf der Südlichen Straße des Volkes kam es zu blutigen Zusammenstößen. Ich wurde zu einem gesuchten Hauptverbrecher, tat mich notgedrungen mit ein paar Leuten zusammen und floh von Sichuan nach Yunnan. In einem Tempel bestachen wir einen Mönch aus dem Volk der Keqin, der oft Leute über die Grenze brachte. Wir hetzten mehrere Tage und Nächte über Berge und Täler, bis wir draußen waren. Verdammtes Pech, aber wir waren selbst schuld! Auf einmal hatte ich mich im Urwald von Myanmar verirrt, wir liefen ziellos durch die Gegend, sahen ein paar Stunden lang überhaupt keinen Himmel, nur ein paar Fetzen Sonnenlicht fielen durch das dichte Blätterdach auf den Boden. Der Mönch hatte sein Geld bekommen und war schon längst wieder auf dem Rückweg, alle anderen waren auf mysteriöse Weise verschwunden, schwer zu sagen, ob sie in einen Hinterhalt geraten waren. Je weiter ich kam, umso mehr bekam ich eine Gänsehaut. Haben Sie den alten Film aus den Fünfzigern gesehen: ›Caravans with ring‹? [62] Die Wege, die da die Waffen und die Opiumhändler gingen, das heißt, manchmal waren es gar keine Wege, und zurück ging es noch weniger, ich schwang die Machete, die der Mönch uns dagelassen hatte, und habe mich dabei ganz verheddert. Ich war vollkommen durchgeschwitzt, und diese Moskitos! Ein Schwarm nach dem anderen rückte an, wie kleine Atombomben explodierten sie vor den Augen, das war das Vorzeichen des herannahenden Abends, ich dachte, das war’s, ich würde in diesem Urwald zugrunde gehen, als Leckerbissen für die wilden Tiere, da hörte ich auf einmal neben meinem Ohr den militärischen Befehl: ›Keine Bewegung!‹
    Das war Chinesisch, ganz klar und deutlich! Mein Kopf flog mit einem Brummen davon! Ich bekam weiche Knie und kniete mich auf den

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