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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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selbst nur noch schwarze Fettrückstände gegessen hatte. Er drückte sich das Fett durch die Zahnzwischenräume und ließ es in ein kleines, drei Zoll hohes Arzneimittelfläschchen tropfen, wartete drei bis fünf Monate, bis das Fläschchen voll war, und ließ es über Beziehungen seiner über neunzigjährigen Mutter nach draußen bringen. Fleisch ist im Gefängnis wertvoller als Gold, jemand der auf Erden in dieser Weise seinen Sohnespflichten nachkam, musste das nicht ein Heiliger sein?«
    »Die Geschichte hat mit Sohnespflichten nichts zu tun!«, widersprach die Stimme, »seit dem Altertum haben die Chinesen Tausende und Abertausende von pietätvollen Söhnen hervorgebracht, aber wie viele davon waren unsterblich?«
    »Die Geschichte ist sterblich, ihre Einzelheiten nicht; so wie die Menschen einer nach dem anderen sterben, die Einzelheiten, die mit ihnen zu tun haben, weiterleben; aber so wie jemand das Shiji [60] , die erste chinesische Reichsgeschichte, nicht beachten kann, es ist vollkommen ausreichend, wenn er sich nur an den einen Augenblick erinnert, an dem Sima Qian, dem sie die Eier abgeschnitten hatten, seine Schmach für das Schreiben vergaß.«
     
    Das Gemetzel vom 4. Juni jährt sich zum elften Mal, die Blutspuren sind verblasst wie die Erinnerungen, der Tag, an dem wir unser Schicksal in die eigene Hand nehmen können, ist in weite Ferne gerückt. Die Massen, die sich wie von Sinnen in die Umwandlung des Landes gestürzt hatten, sind über Nacht so pragmatisch geworden, so einig in ihrer Liebe zum Geld. In den Mußestunden nach dem Essen oder beim Tee werden vielleicht noch ein paar alte Freunde auf mich und die anderen zu sprechen kommen, in der Regel heißt es dann, der und der hat wegen diesem und jenem ein paar Jahre gesessen, im Augenblick ist er arbeitslos und ohne Geld, er hat mit den Veränderungen nicht Schritt gehalten, vielleicht hat das Gefängnis ihn unbeweglich gemacht und so weiter. Und wer ein weiches Herz hat, wird ein wenig seufzen; doch ein anderer wird ihn sofort zurechtweisen: »Hör nur auf, es musste ja so kommen, die meisten haben sich vor dem Unglück in Sicherheit gebracht, ein paar haben Profit daraus geschlagen, und ausgerechnet er hat den Kopf nicht eingezogen; der alte Himmelsvater macht es ihm schwer!«, und diese traditionelle Schicksalgläubigkeit wird natürlich auf Resonanz stoßen.
    Ich habe die Namensliste und die Zeugenaussagen von Familienmitgliedern von 155 Opfern des 4. Juni, die Professor Ding Zilin in den letzten Jahren gesammelt hat, gelesen – darunter ist nicht die Elite, nicht die Führer der Studentenbewegung, auch nicht ein einziger halbwegs bekannterer Autor oder Dichter. Diese Liste von ganz normalen Geistern, die einem Unrecht zum Opfer gefallen sind, wird durch eine vertiefte Suche noch anwachsen, vielleicht wird sie nie aufhören zu wachsen, und es wird am Ende niemals eine feste Zahl von Opfern geben. Die Toten waren zu durchschnittlich, einige von ihnen waren überhaupt nicht auf der Straße, andere haben einfach aus Neugier einmal den Kopf vom Balkon gestreckt und wurden von einer verirrten Kugel in den Kopf getroffen. 1988 habe ich das in dem Gedicht »Gelbe Stadt« vorhergesagt: »Niemand, der Platz ist leer/wir werden sein: Teil eines Meeres, ohne Wasser, ohne Menschen.«
    Li Bifeng hat mir einmal die Frage gestellt: »Wenn wir uns mit den Toten vom 4. Juni vergleichen, wer hat dann Glück gehabt, sie oder wir?«
    Es stimmt schon, wer will schon den Henkern zuschauen, wie sie das Messer wetzen und weiter auf den Bühnen dieser Welt ihre Macht zur Schau stellen? Elf Jahre, eine Demokratiebewegung von gewaltigen Dimensionen hat sich in nichts aufgelöst, eine Seifenblase, die politischen Gefangenen (die schon entlassen sind wie die, die es noch nicht sind) bilden ein nicht gerade glorreiches Erbe der Gesellschaft und werden von der überwiegenden Mehrheit der Menschen, die dafür gelobt werden, »nicht zu viel nach Politik zu fragen«, abgelehnt – von denselben, die sich einmal in Massen und begeistert in die Politik der Straße gestürzt haben!
    Die Toten sind umsonst gestorben. Die Überlebenden leben umsonst. Zwischen den politischen Gefangenen der Mao-, der Deng- und der Jiang-Ära gibt es keinen wesentlichen Unterschied; zwischen einem Agenten, einem Bauernkaiser und einem Reporter der Saodang-Zeitung [61] besteht kein wesentlicher Unterschied. Wir sind Humus, wir geben den großen Bäumen, die ihren Duft überallhin

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