Für ein Lied und hundert Lieder
Instinkt des Menschen, im Osten wie im Westen hat man dafür grenzüberschreitende Bezeichnungen. Vor allem in der großen Wendezeit, als der Totalitarismus dem Untergang entgegenging, verstörte diese Existenzkrise jeden einzelnen Menschen, Habgier wurde zur gesellschaftlichen Tugend, Unternehmensfusionen, die Freisetzung von Arbeitskräften, Obdachlose und Wanderarbeiter, korrupte Beamte, Prostitution und Räuberei. Die Härte und die Verbreitung dieses zwar unblutigen, aber mörderischen Wirtschaftskrieges zerlegt wieder und wieder das Vermögen ganzer Gesellschaften, und das steht dem Massaker vom 4. Juni in nichts nach. In einer Zukunft, in der die einzelnen Märkte und Themenkomplexe miteinander verbunden sind, werden die alten politischen Begriffe nach und nach von »Produktionsbrennpunkten« ersetzt – mit anderen Worten: Produktionsschwerpunkte verlockten die Völker, der Mode zu folgen, die Geschichte, das Leid und ihre Wurzeln wurden zu Konsumartikeln, mit denen jeder nach Belieben herumspielen kann, das war die politische Form der Wendezeit. Stars, Models, Businessleute, Modellarbeiter, sogar das Gelächter an der Straße, Artikel über die Familie von irgendeiner Führungsperson können als Material für einen Brennpunkt ausgeschlachtet werden. Unter den Bedingungen einer »Ex- und-hopp«-Epoche, was ist da das Schicksal altmodisch gewordener politischer Gefangener? Rehabilitierung? Und was kommt nach der Rehabilitierung? In der politischen Spielrunde zu einem neuen Brennpunkt werden? Damit dich die Massenmedien zwischen all die Stars, Models, Businessleute und Vorzeigearbeiter und das Straßengelächter einreihen?
Wirst du zum Helden? Aber nicht alle die Zehntausenden von politischen Gefangenen vom 4. Juni können jeder für sich zum Helden werden, die traditionelle Politik bestand aus der Modellierung von Helden, doch die gegenwärtige Politik besteht in einer Veralltäglichung des Heldentums, und so besteht nie ein Mangel an dergleichen.
Und so werden die politischen Gefangenen des 4. Juni, wenn sie denn einmal entlassen werden, zu seltsamen Ungetümen, die ihr Land nicht mehr verstehen, zu Menschen, die die Massen verlassen haben.
Ich habe die Biographien von einigen alten Kämpfern für die Demokratie gelesen, »Wege ins Dunkel« von Wang Xizhe, »Verhungern« von Liu Qing, »Briefe aus dem Gefängnis« von Xu Wenli und die Erinnerungen von Wei Jingsheng und Fu Shengqi über die Mauer der Demokratie am Xidan und die Bewegung für Volkspublikationen. Sie alle haben in ihrem historischen Abschnitt gelebt, wir schätzen die eigene Geschichte, aber worauf wir achten müssen, ist, dass wir die Geschichte nicht missbrauchen dürfen, um willkürlich unsere persönliche Wirkung herauszuheben oder überzubewerten. Denn es waren ja doch Leute wie Mao Zedong und viele andere Despoten auf der ganzen Welt, die über den Staat, über eine Kirche oder irgendeine politische Macht ihre persönliche Geschichte der Masse der Bevölkerung aufgezwungen haben, um die Menschheit gemäß ihren persönlichen Vorstellungen oder Illusionen von der Geschichte zu befreien.
Viel dringender als jemanden, der im Namen der Geschichte spricht, brauchen die einfachen Menschen jemanden, der im Namen der Wirklichkeit die Stimme erhebt, so wie die Führer der Studentenschaft im Hungerstreik, die während der Studentenunruhen ’89 in einer Direktübertragung des Fernsehens Staatspräsident Li Peng vor aller Augen bis auf die Knochen blamiert haben – solche brillanten Augenblicke der Wirklichkeit sind längst Geschichte, die Parolen der Studenten gegen Korruption werden längst von amtlicher Seite benutzt, um Dissidenten zu unterdrücken – denn dem wirklichen Leben kann man nicht ausweichen, aber man kann es sich als kleiner Bürger aussuchen, ob man der Geschichte Achtung zollt oder nur dummes Zeug redet.
Lenin sagt: »Die Vergangenheit zu vergessen ist Verrat.« Ameisenstaaten reden von Pluralismus und setzen den Warenfluss an die Stelle der Klassenkritik, das ist ihre am weitesten verbreitete Methode. Aber wenn bestimmte Abschnitte der Geschichte durch verschiedene Versionen der Memoirs und Sexskandale zerlegt werden, verliert all das, was sie transportieren, die Opfer, die Erhabenheit, die Menschlichkeit, die Wahrheit und die Gewissensstärke seine Bedeutung als geistiges Protokoll.
Also, weswegen schreiben?
Beim Schreiben gibt es kein Weswegen. Der winzige Mensch weiß nicht, wie groß der Himmel
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