Für ein Lied und hundert Lieder
des Nichts
wie ein Pfeil durch unser Inneres schießt
Der Wächter auf seinem Rundgang watet durch das Wasser heran
das Bajonett ist warm wie ein Fischschwanz
Der stumme Schrei der Fische
Der gerade achtzehn Jahre alte Mörder
mit dem weit offenen Maul
– du Babygesicht
mit dem stummen Schrei der Fische
Die von einem Seil abgeschnürte Kehle
treibt in der Unterwelt Knospen
Der große Räuber mit den Fußfesseln
stürzt rasselnd zu Boden
attackiert das Orchester vor der Mauer
das verräucherte Theater des Lebens vor der Mauer
den Mond, der den Arsch vollbekommt vor der Mauer
Aufschürz
dein rundes Gerät, die geschwollene Glans
hoch zum unblockierten Himmel
mach für uns Kotau vor der Mutter
Silvesterabend 1992
Lebensarten
Es gibt zu viele Gründe, nicht leben zu wollen
Hunger, Schmerz
weil der Hals so lang ist
vom Strecken zum Gras vor der Zelle
Doch das wilde Hirtinnenhaar der Sonne hängt von der Mauer
der Wachhabende ist ihr Gemahl
er schreitet einher, schwer von Sorgen
dann geht auch die Nacht auf und ab
die Sterne sind Brüste, von Reizwäsche halb verhüllt
Und so, erregungslos und verzweifelt, läuft der Samen aus mir heraus, Jahr für Jahr
verzweifelt die bitteren Gedanken an die Gründe, nicht leben zu wollen
und dann der Spalt, der aufbricht zwischen den Schenkeln der Gründe
ist hier Freiheit, im Spalt?
Du musst dich beherrschen, darfst nicht grob sein zur Freiheit
Ameisenkolonnen kommen und gehen
auch in deinen Augen wächst Gras
Der Knast ist eine lange schwierige Geburt
All, du Hure
die ganze Menschheit steckt in deiner Vagina
Die Hand in der Fessel geht nicht vor und zurück
wie ein strenger philosophischer Satz
du kannst dir nur denken, dass es vielen nicht gutgeht
du kannst dir nur denken, dass die Welt ein durchsichtiger Käfig ist
in dem niemand weit kommt
So hältst du das Gleichgewicht –
nicht leben wollen ist eine Illusion
die musst du schultern und tragen
für den Rest deines Lebens
dann wird der Tag konkret wie eine Zahnpastatube
nichts mehr herauszupressen
die Sonne steht still in der Luft
wie ein Verkehrsunfall der Ewigkeit
23. Mai 1992
Borges lesen im Gefängnis
Das ist die romantischste Zeit im Gefängnis
zwischen den klirrenden Fußketten der Todeskandidaten
lese ich Borges
also geht der Mond Argentiniens auf
aus der linken Gesichtshälfte des chinesischen Wachmanns
schneidet wie ein Messer das Vaterland in zwei Hälften
dann die Berge
mit den Eckzähnen ineinander verbissene Wogen
in der Tiefe ziehn Haie träge vorbei
zu zweien, zu dritt, wie unsere Glatzen
in den Schüssen gehen die Blumen auf
Wenn man die Ideen von Dichtern schätzt
Raum und Zeit nach Belieben in die Höhe, in die Länge zieht
wird die Eierschale der Erde sich schälen
der Augenblick, in dem die Kugel uns trifft, ähnelt einem Kometen, der eine Eierschale stahl
Schnee wirbelt
Fallschirme ohne Herkunft
Hirnmasse im Abgrund
Blut
weiß und rot
zwei Handschuhe – Gottes und der Ärzte
wischen abwechselnd die nachtwachen Augen des Schriftstellers
Deine Augen hat der Mond zerstört
Das Gefängnis ist eine Kaverne unter den Brauenknochen
zwischen Buch und Buch
die Asche der Bibliothek Alexanders des Großen
längst zu Kohle geworden
Schreiben ist ein Messergriff, der aus den Augenhöhlen Silber kratzt
Am Schmerz gewachsener Blinder
dich hat die Freiheit verkauft
führ uns zur Freiheit
der von allen beschlafenen
von allen im Stich gelassenen Hure
Dieser alte Körpergeruch wird bleiben
neben Jagdhunden und Polizisten
Borges, ist deine Nase die flinkste
wenn sie dir Handschellen anlegen
hältst du das dann für einen eiskalten Blindenhund?
3. März 1992
Geträumter Ausbruch
Das Gefängnis, schneeweiß, ein Ei
fest verpackt in der Schale der Bergstadt
du bist noch nicht geschlüpft
beide Augen sehen Beine verquer
über sich stolpern
Das ist eine primitive Kurzbeschreibung der Konkurrenzgesellschaft
Gitter werden geplant wie Beine
ihre größte Brauchbarkeit liegt
im Nichts der Gefangenenkäfige
Viele Fluchten erlebt ein Mensch
vor der Familie
vor der Straße
vor der Eierschale oder dem Eigelb des Gesellschaftssystems
vor verschmutztem Trinkwasser
Vom Osten laufen sie nach Westen über
Gitterreihen. Was du nicht weißt
die Gitter der Sprache und Gewohnheit
überwindet man nicht
Im Blut
wacht ein Polizist, ein Weißer
er zieht die weiße Haut ab
ein anderer wacht, ein Gelber
die Seele braucht keinen Pass
am
Weitere Kostenlose Bücher