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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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des Nichts
    wie ein Pfeil durch unser Inneres schießt
    Der Wächter auf seinem Rundgang watet durch das Wasser heran
    das Bajonett ist warm wie ein Fischschwanz
    Der stumme Schrei der Fische
    Der gerade achtzehn Jahre alte Mörder
    mit dem weit offenen Maul
    – du Babygesicht
    mit dem stummen Schrei der Fische
    Die von einem Seil abgeschnürte Kehle
    treibt in der Unterwelt Knospen
    Der große Räuber mit den Fußfesseln
    stürzt rasselnd zu Boden
    attackiert das Orchester vor der Mauer
    das verräucherte Theater des Lebens vor der Mauer
    den Mond, der den Arsch vollbekommt vor der Mauer
    Aufschürz
    dein rundes Gerät, die geschwollene Glans
    hoch zum unblockierten Himmel
    mach für uns Kotau vor der Mutter
    Silvesterabend 1992

Lebensarten
    Es gibt zu viele Gründe, nicht leben zu wollen
    Hunger, Schmerz
    weil der Hals so lang ist
    vom Strecken zum Gras vor der Zelle
    Doch das wilde Hirtinnenhaar der Sonne hängt von der Mauer
    der Wachhabende ist ihr Gemahl
    er schreitet einher, schwer von Sorgen
    dann geht auch die Nacht auf und ab
    die Sterne sind Brüste, von Reizwäsche halb verhüllt
    Und so, erregungslos und verzweifelt, läuft der Samen aus mir heraus, Jahr für Jahr
    verzweifelt die bitteren Gedanken an die Gründe, nicht leben zu wollen
    und dann der Spalt, der aufbricht zwischen den Schenkeln der Gründe
    ist hier Freiheit, im Spalt?
    Du musst dich beherrschen, darfst nicht grob sein zur Freiheit
    Ameisenkolonnen kommen und gehen
    auch in deinen Augen wächst Gras
    Der Knast ist eine lange schwierige Geburt
    All, du Hure
    die ganze Menschheit steckt in deiner Vagina
    Die Hand in der Fessel geht nicht vor und zurück
    wie ein strenger philosophischer Satz
    du kannst dir nur denken, dass es vielen nicht gutgeht
    du kannst dir nur denken, dass die Welt ein durchsichtiger Käfig ist
    in dem niemand weit kommt
    So hältst du das Gleichgewicht –
    nicht leben wollen ist eine Illusion
    die musst du schultern und tragen
    für den Rest deines Lebens
    dann wird der Tag konkret wie eine Zahnpastatube
    nichts mehr herauszupressen
    die Sonne steht still in der Luft
    wie ein Verkehrsunfall der Ewigkeit
    23. Mai 1992

Borges lesen im Gefängnis
    Das ist die romantischste Zeit im Gefängnis
    zwischen den klirrenden Fußketten der Todeskandidaten
    lese ich Borges
    also geht der Mond Argentiniens auf
    aus der linken Gesichtshälfte des chinesischen Wachmanns
    schneidet wie ein Messer das Vaterland in zwei Hälften
    dann die Berge
    mit den Eckzähnen ineinander verbissene Wogen
    in der Tiefe ziehn Haie träge vorbei
    zu zweien, zu dritt, wie unsere Glatzen
    in den Schüssen gehen die Blumen auf
    Wenn man die Ideen von Dichtern schätzt
    Raum und Zeit nach Belieben in die Höhe, in die Länge zieht
    wird die Eierschale der Erde sich schälen
    der Augenblick, in dem die Kugel uns trifft, ähnelt einem Kometen, der eine Eierschale stahl
    Schnee wirbelt
    Fallschirme ohne Herkunft
    Hirnmasse im Abgrund
    Blut
    weiß und rot
    zwei Handschuhe – Gottes und der Ärzte
    wischen abwechselnd die nachtwachen Augen des Schriftstellers
    Deine Augen hat der Mond zerstört
    Das Gefängnis ist eine Kaverne unter den Brauenknochen
    zwischen Buch und Buch
    die Asche der Bibliothek Alexanders des Großen
    längst zu Kohle geworden
    Schreiben ist ein Messergriff, der aus den Augenhöhlen Silber kratzt
    Am Schmerz gewachsener Blinder
    dich hat die Freiheit verkauft
    führ uns zur Freiheit
    der von allen beschlafenen
    von allen im Stich gelassenen Hure
    Dieser alte Körpergeruch wird bleiben
    neben Jagdhunden und Polizisten
    Borges, ist deine Nase die flinkste
    wenn sie dir Handschellen anlegen
    hältst du das dann für einen eiskalten Blindenhund?
    3. März 1992

Geträumter Ausbruch
    Das Gefängnis, schneeweiß, ein Ei
    fest verpackt in der Schale der Bergstadt
    du bist noch nicht geschlüpft
    beide Augen sehen Beine verquer
    über sich stolpern
    Das ist eine primitive Kurzbeschreibung der Konkurrenzgesellschaft
    Gitter werden geplant wie Beine
    ihre größte Brauchbarkeit liegt
    im Nichts der Gefangenenkäfige
    Viele Fluchten erlebt ein Mensch
    vor der Familie
    vor der Straße
    vor der Eierschale oder dem Eigelb des Gesellschaftssystems
    vor verschmutztem Trinkwasser
    Vom Osten laufen sie nach Westen über
    Gitterreihen. Was du nicht weißt
    die Gitter der Sprache und Gewohnheit
    überwindet man nicht
    Im Blut
    wacht ein Polizist, ein Weißer
    er zieht die weiße Haut ab
    ein anderer wacht, ein Gelber
    die Seele braucht keinen Pass
    am

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