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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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beugte mich zur Seite, um dem zweiten Schlag zu entgehen, ich war so erschrocken, dass ich zu brüllen anfing: ›Vor meinem Bett, der Mond, ein heller Schein/oder fiel schon Reif herein‹ – ich hatte nicht einmal mehr Zeit, die letzten beiden Verse des Gedichts aufzusagen, als mir die versammelte Meute im Chor zuvorkam: ›ich heb den Kopf hinauf zum Mond! Senke ihn, würd’ gern zu Hause sein!‹
    Das kam so aus heiterem Himmel, dass ich mir vor Angst fast in die Hose gemacht hätte, die Meute wollte sich gar nicht mehr beruhigen: ›Und du willst ein Dichter sein? Ein Arsch bist du! Das kann jedes drei Jahre alte Kind aufsagen!‹
    ›Ich kann auch noch andere‹, beeilte ich mich richtigzustellen.
    ›Iss erst mal ein Schälchen mit Fadennudeln, willst du die Suppe lieber rot oder klar?‹
    ›Ich habe keinen Hunger.‹
    ›Du hast Hunger‹, bestimmten die Kerle und reichten mir eine Schale mit abgestandenem Urin, in dem Füllgras aus einer Matratze eingeweicht war.«
    »Wie hat es geschmeckt?«, fragte ich.
    »Ich habe es nicht probiert«, Gou Mingjun lachte bitter, »aber wenn man komplett plattgemacht wird, dann schlägt es einem auch das Gedächtnis platt. Ich habe über eine Woche geschlafen, wenn ich meine Arme und Beine bewege, tut mir alles weh, ich kann nichts mehr anderes denken als ›Vor meinem Bett der Mond, ein heller Schein‹, dieser Scheiß-Li Bo, der bringt mich um.« [20]
    Gou Mingjun hatte sich bewährt, er war unter die Räuber gefallen, trug Anekdoten aus dem Knast bei sich, bei denen die Leute sich den Bauch hielten vor Lachen, und doch, ich konnte nicht lachen – vor Tagesanbruch sagte er schließlich nichts mehr, wir schauten eine Weile schweigend vor uns hin, er hielt es nicht aus und gähnte, da kramte ich das Band meiner Lesung des »Requiems« heraus und spielte es ihm vor. Auf einmal fingen wir an zu zittern: »Kalt wie ein Eisblock«, sagte er, »das Zeug da lässt einen richtig erstarren, ich weiß gar nicht, wie du das hast zu Ende lesen können.«
    »Wir planen einen Film zu dem Thema.«
    »Hm, hm«, Gou Mingjun war am Wegdämmern, »ich spende 200 Kuai, für das Geld, das du mir geschenkt hast, als du bei mir im Knast warst.«
    »Hau bloß ab!«
    Gou Mingjun schnarchte.
     
    In der zweiten Februarhälfte 1990 schickte Liu Taiheng, dieser findige Gauner, wie versprochen eine Einladung zu einem Dreh des »Film- und Fernsehzentrums der Bergstädte«; der Leiter der Einheit war wegen der »Zusammenstellung der Lokalchronik von Fuling« unabkömmlich, der Fall wurde dem Leiter des regionalen Kulturamtes übertragen, der alte Bürokrat spielte ein doppeltes Spiel, nach außen hin stimmte er zu, und im Geheimen denunzierte er uns beim Amt für Öffentliche Sicherheit.
    In der Nacht vom 1. März habe ich Blödmann dann in meiner Verzweiflung ein großes Risiko auf mich genommen und Fuling unter den Augen des Himmels, dem ja bekanntlich nichts entgeht, per Schiff verlassen – ich hatte keinerlei Papiere bei mir, nur einen gefälschten Presseausweis, dafür aber jede Menge belastendes Material wie die Manuskripte des »Massakers« und des »Requiems«, samt den Tonbandaufnahmen.
    Der Fluss war lackschwarz, die langsam kleiner werdende Bergstadt sah aus wie ein weiterer Superdampfer auf dem Weg in den Himmel. A Xia und das Kind in ihrem Bauch hatte ich im Stich gelassen. Warum riss ich mir die eigenen Wurzeln heraus? Scheiße, die Zeile aus dem Gedicht »Das Liebespaar« stimmte: »Kein Ort zu ruhn …/der Körper löst sich auf/die Seele wird es weiter tun.«
    Eine formlose, stumpfe Säge arbeitete an mir, die Strahlen der Bootsscheinwerfer kletterten wie die weichen Arme eines Kraken das Steilufer hinauf, spuckten einen dicken, klebrigen Schleim aus, mein Herz wurde gefesselt: »Immerhin, noch dieser Tag«, sagte ich zu mir selbst, »besser früher als später.«
    Am nächsten Morgen war ich bei Liu Taiheng, an der Dritten Militärmedizinischen Universität am Shaping-Damm in Chongqing. Die Bande von Faulenzern, die gegen ihre Gewohnheit früh aufgestanden war, kam mir geschniegelt und gebügelt entgegen. Ich hatte nicht einmal Zeit, mir das Gesicht zu waschen, in blinder Erregung machten wir zwei Stunden lang irgendwelche Filmpläne. Liu Taiheng prahlte herum: »Kein Problem, bei so viel Grips und Talent.«
    »Ist doch bloß ein Film«, murmelte Li Yawei.
    »Habt ihr auch schon jemanden für all die Handlangerdienste?«, sagte ich und schielte auf die paar jungen Menschen,

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