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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Eigentlich ging es beim Anstellen streng hierarchisch zu, oder besser, nach der Klassenzugehörigkeit, vorne standen die »alten Zhaos«, und es endete mit dem »Dielen-« und »Latrinengesindel«, jeder blieb streng bei seiner Stellung, davon wurde kein Haarbreit abgewichen.
    Auf den Pfiff eines Aufsehers wurde angefangen zu essen – vorher herrschte in der Meute angespannte Stille, dann waren alle wie losgelassen. Die meisten reckten zuerst den Hals und schütteten sich die kalte dunkle Suppe hinein, dann griff man sich den Reis; mancher ließ die Stäbchen einfach weg und stopfte sich die dampfenden Reisklumpen direkt mit der Hand in den Mund, um dann mit Tränen in den Augen heftig Luft einzuziehen; angesichts dieser schrecklichen Tischmanieren schaute ich nur so, ich wusste gar nicht, was tun, als auch schon eine schmutzige Hand aus dem Diebesgesindel an meiner Seite blitzartig in meine Fleischschüssel langte. Bis ich den starken Luftzug mitbekam, mit dem er in meinem Fleisch herumfuhrwerkte, und zu mir kam, war der Großteil meines Fleisches schon in seinem Mund verschwunden. Seine eingefallenen Wangen waren für eine Weile dick aufgebläht, was irgendwelche blaue Adern, die sich seinen Hals hinaufzogen, in Mitleidenschaft zog, das Fett troff ihm aus den Mundwinkeln und gerann auf der Stelle.
    Aber der Diebstahl, so clever er war, entging den Adleraugen des Gesetzes nicht, der Wachhabende trat mit großen Schritten an uns heran und hob den kleinen Mann in die Luft: »Du kleiner Scheißkerl!«, schimpfte er, schwang die rechte Hand und schlug ihm rechts und links ins Gesicht; ohne Atem zu holen, schlug er zu, gut zwanzigmal. Doch auch wenn der Kleine heftig ins Schwanken geriet, seine Füße waren wie in den Boden genagelt. Ein paar Fleischfetzen flogen von seinen Ohren weg in meine Schüssel, Blut und Rotz liefen ihm in mehreren Bahnen das Kinn herunter und tropften zu Boden. Aber der Schnabel kaute im Unterbewusstsein weiter, ein ununterbrochenes, langsames Kauen.
    In seiner Wut zertrampelte ihm der Wachmann den Fressnapf, nahm seine Pfeife und trillerte wie wild, und nach etwa fünf Minuten war das Mittagessen in der Hölle beendet. Die meisten Gefangenen hatten sich mit ihrem Zeug bereits den Bauch vollgeschlagen, mit langsamen Bewegungen kneteten sie die Reisklumpen in den Händen, die Hälse jäh nach oben gereckt wie Hähne beim Krähen.
    Den Leerlauf beim Waschen der Schalen nutzte so ein dürrer Affe aus, ging zu der Regentonne in eine Ecke der Mauer und schaufelte sich wie von Sinnen Wasser in den Mund, wobei ihm der klebrige Reis wie feiner Schlamm das halbe Gesicht verklebte. Als die Wachleute das mitbekamen, vertrieben sie ihn mit Knüppeln aus verschiedenen Hölzern, das verhungerte Gespenst arbeitete mit der Kampftechnik der Schlammwelse und verschwand sich windend in der Menschenmenge. Überraschend sprang ein weiterer solcher dürrer Affe schräg heraus und spielte das alte Spiel vom Hasen und Igel. Die Wachleute gaben es auf, warfen die Knüppel hin und gingen sich die Nase haltend und kopfschüttelnd weg.
    Ich biss die Zähne zusammen, die Magensäfte stießen mir in Wellen hoch, es war, als wühle mir eine lebendige Maus im Leib herum. Es klärte auf, Sonne bedeckte die grünen Schimmelflecken, wir waren in einer Felsrinne des Universums, und unser Lebensraum war ein unbedeutendes, rostzerfressenes Abflussrohr.
    Ich wogte mit dem verdreckten Hauptstrom zurück in die Zelle, Doppelkreuzung wies mir wieder den Platz neben dem weißhaarigen Alten zu. »Auf dem anderen Ufer« dieses kleinen Pfads durch die Zelle saßen sieben ordentlich gekleidete Kerle im Halbkreis und fingen an, in sehr landadeliger Manier ihre Mahlzeit zu nehmen: Es gab Fleisch, es gab eine Suppe aus mit heißem Wasser übergossenem saurem Kraut, es gab sogar ein paar Blätter voller Obst als Nachtisch. Doppelkreuzung saß auf dem einzigen, mit einer Decke abgedeckten Sofa ruhig an die Wand gelehnt, wenn er herumkommandierte, gingen alle in die Hocke.
    Erst ein paar Tage später kam ich allmählich »in den vollen Genuss« dieser ständisch streng gegliederten modernen Sklavengesellschaft. Der kleine Weg in der Mitte der Zelle bildete die Grenze, die die beiden grundsätzlichen Klassen voneinander trennte – »die oben« und »die unten«. Unter den Oberen waren die »alten Zhaos« die Größten, und wer ein »alter Zhao« war, das bestimmte das für die Zelle zuständige Personal. Unter diesen hatten Huang Gang,

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