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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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»Ich bin kein Dieb, ich habe nichts gestohlen.«
    Das versammelte Diebesgesindel lachte schallend. Lianglukou, Doppelkreuzung, ihr Anführer (die Leute, die in dem Gebiet von Lianglukou in Chongqing zu Hause und hier »versammelt« waren, hatten den Ehrennamen »alte Zhaos« – von dem chinesischen Wort »zhaoji« für »versammeln«), hatte eine feine Haut mit zartem Fleisch und war einem weißgekleideten Buchgelehrten aus einem der Kung-Fu-Romane zum Verwechseln ähnlich. Er ließ die Hand sinken, und das Lachen in der Zelle brach abrupt ab, wie geschnitten.
    »Er soll sich ein Menü aussuchen!«, befahl er.
    Ahnungslos ließ ich mir ein Blatt Papier mit einer Speisekarte in die Hand drücken, als draußen ein unerwartetes Klingeln einsetzte. In die Meute kam Bewegung, dieser Akt musste wohl oder übel abgebrochen werden.
    Die sieben Gesindelkönige, die Doppelkreuzung anführte, hoben alle ein Bein, eine Gruppe aus dem Fellgesindel pflückte ihnen die Schuhe von den hochgereckten Füßen und tauschte sie gegen niegelnagelneue Stoffschuhe. Danach warteten alle, nach ihrer Stellung vor der Zellentür aufgereiht, auf den Aufschluss. Im Korridor setzte ein heftiger Lärm ein, als sechs Gruppen mit über 150 Gefangenen wie eine Schlammlawine in eine Richtung davonstürzten, ich wurde von dem Strom mitgerissen und um eine Ecke, das z-förmige Treppenhaus hinunter bis auf den Innenhof im Parterre gespült. Der düstere Raum war in Rechtecke aufgespalten, die hohen Ziegelmauern krönte ein elektrischer Stacheldrahtverhau, es gab kein Wachhaus, keine Suchscheinwerfer und keine Maschinengewehre.
    Dieses altertümliche Gefängnis glich van Goghs berühmtem Bild »Hofgang der Gefangenen« aufs Haar, nur die Mienen der Gefangenen waren strenger, ernster, dunkler. Sechs Kolonnen richteten sich auf Kommando aus wie ein Lineal, das ging rasend schnell, am Anfang und am Ende der Kolonne stand jeweils ein guter Onkel und peilte mit einem altersschwachen Auge die Horizontale an.
    Die Kerle hatten allesamt in der linken Hand eine Essschale, in der rechten Hand Stäbchen – und trabten auf der Stelle. Sie sahen aus wie revolutionäre Kämpfer vor dem Aufbruch. Tapptapptapptapptapptapp, ein gleichmäßiger Takt, in dem verschwommenen Regenvorhang eine großartige Szene – bis das Kommando »Halt« gebrüllt wurde und augenblicklich vollkommene Stille herrschte. Der Wachhabende kam, bis an die Zähne bewaffnet, aus der kleinen Tür der Gemeinschaftsküche, die Hände auf dem Rücken, schritt wie auf Spaziergang einen Menschenkorridor ab und kam im nächsten Menschenkorridor wieder zurück. Wenn er den Arm senkte, ging das Diebesgesindel in Zweiergruppen einander gegenüber in die Hocke und stellte sich die Steingutschüsseln (oder den irdenen Fressnapf) vor die Knie. Zwei Rotfelle mit soliden Muskeln begannen geduckt Reis zu verteilen, einer zog den Reiskorb, der andere hob die Fressnäpfe auf und stellte sie wieder hin, dreimal die gleiche Wegstrecke, dann war die Sache beendet. Danach gab es Gemüsesuppe aus einem schwarzen, rostigen Eisenkessel, für jeden eine Kelle, auch das ging in Windeseile. Wer Glück hatte, erwischte ein großes Gemüseblatt, wer nicht, der schüttete alles auf den Boden.
    Ich hatte nicht ganz so viel Glück, in meiner dunklen Brühe kreisten nur zwei Außenblätter Kohl.
    Erstaunlicherweise wurde auch mit Fleisch nicht gegeizt. Der Wachhabende prüfte eine Kelle voll, dann wurde wieder jeder Gruppe befohlen sich anzustellen, wobei die »alten Zhaos« die Geldkarten überprüften, die zur Abrechnung hingehalten wurden. Ein Rotfell aus der Küche, ein Riesenkerl (und ein Krimineller), sang die Namen von den Geldkarten herunter mit den jeweiligen Rabatten, das Fleisch für die ganze Gruppe verschwand auf diese Weise nach und nach in ein paar großen Schüsseln. In der Zwischenzeit traten auch drei von den Empfangspaaren zum Fleischempfang aus der Reihe vor (später erst erfuhr ich, dass sie zu der Fraktion der »Müßiggänger« gehörten, das heißt, sie bildeten im Gefängnis eine Art Mittelschicht).
    Plötzlich sah man oben in einem Fenster im ersten Stock den Bereichsleiter eines Traktes etwas sagen – er ließ mir Fleisch austeilen. Ich kam zurück mit dem Geschenk einer mehr als halbvollen Schüssel in Chilischoten angebratenen fetten Fleischs – und war ich vorher noch der Sechstletzte in der Reihe gewesen, stieg meine Position jetzt auf einen Schlag, und ich stand unter den ersten Zehn.

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