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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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nimmt nun nicht nur die Spucke seiner Herren auf, sondern als Papierkorb auch allen möglichen Abfall.
    45. Die Luding-Brücke wird von der Roten Armee im Sturm erobert [28] : Das Diebesgesindel kriecht herum wie Hunde, Kopf an Schwanz und Schwanz an Kopf bilden sie eine Menschenbrücke, dem zu Bestrafenden wird befohlen, über die Brücke zu gehen, wobei ihm nur erlaubt ist, auf die Brückenpfeiler zu treten (das heißt auf die erhobenen Köpfe). Wenn er herunterfällt, darf er nicht mit den Füßen oder dem Gesäß zuerst den Boden berühren, Zuwiderhandlungen werden bestraft.
     
    Das Vorspiel begann, über hundert Verhöre sollten noch folgen.
    Ich war in kalten Schweiß gebadet. Als ich vor die Zellentür trat, hatte ich das Gefühl, Sterne zu sehen, ein paar Spezialagenten in Zivil standen Spalier und begrüßten mich. Als sie meine schwankenden Schritte bemerkten, gratulierten sie mir: »So schnell hast du von dem Wein hier probiert? Du torkelst ja nicht schlecht!«
    Ein dürrer Kerl stieß in das gleiche Horn: »Du kannst von Glück sagen, dass du hier drin mit Humanisten wie uns zu tun hast. Wenn du dich auf nichts berufen könntest als deinen wilden Widerstand gegen die Verhaftung, dann würdest du zu Recht Bekanntschaft mit den ›108 Ingredienzien vom Kiefernberg‹ machen, ein Glück, dass wir früher als geplant vorbeischauen. Sei kooperativ und mach das Geständnis, wenn du auspackst, wirst du direkt entlassen, da haben alle es leicht.«
    Vorschriftsgemäß lief ich in der Mitte, es ging eine Treppe hinunter, und wir tasteten uns im Untergeschoss durch einen dunklen Korridor. Die anderen Stockwerke waren nicht anders aufgebaut, der Unterschied lag lediglich darin, dass, wenn man nur eine der Türen auf beiden Seiten der kleinen Verhörzimmer und der größeren Zellen aufstieß, einem eine heftige Lichtkaskade entgegenkam.
    Die Polizeibeamten suchten und prüften unterwegs die ganze Zeit, bis sie sich schließlich für ein nach Schimmel riechendes kleines Zimmer am Ende des Ganges entschieden. Das vergitterte Oberlicht war wie eine Durchgangsstraße zum Himmel, so rein und still, wie es da oben hing, auf dem verschwommenen Elektrodraht vor dem Fenster saßen zwei Eisvögel, zwitschernd und schnäbelnd. Ich blieb gegen die Mauer gelehnt stehen, den Kopf demütig gesenkt, der Sekretariatsangestellte bat mich höflich, Platz zu nehmen.
    Wenn man mir den kleinen Finger gibt, will ich die ganze Hand – ich verlangte also eine Bank, der Richter zeigte streng auf den Boden. Widerstand war zwecklos, also ging ich erst in die Hocke und setzte mich dann, die Nase auf Höhe der Knie.
    Und dann wieder: Name, Alter, Geburtsort, Vergehen, wieder: »heb den Kopf«, wieder: das Angestarrtwerden von der Gerechtigkeit. Der Richter allerdings war dürr wie ein Gespenst und blind wie ein Maulwurf und gar nicht dazu angetan, einen Gegner einzuschüchtern; er brauchte Requisiten wie den langen Tisch und den Holzstuhl, um seine erhöhte Position zu unterstreichen, was dazu führte, dass die brillante Schimäre der proletarischen Revolution sich auf einer höheren Ebene sublimierte.
    Ich schielte eine Weile zum Oberlicht hinauf und nahm dann den Kopf zwischen die Knie. Tröpfchenweise begann ich die Zusammenhänge zu erläutern. Die Polizei hingegen fand, ich sage nicht die Wahrheit, also antwortete ich mit Schweigen. Nach zwei Stunden hatte der leicht reizbare Affe da über mir genug von seiner Rumspringerei, von einem Augenblick auf den anderen verwandelte er sich in eine schweißtriefende Bärenmutter, die mir, ihrem altgewordenen Kind, gut zuredete: »Liao Yiwu, treffen wir ein Gentleman-Agreement, wie wäre das? Du machst reinen Tisch, und ruck, zuck bist du morgen wieder draußen, das garantieren wir.«
    »Echt?«
    Ich zeigte ihnen das Gesicht eines Verräters, der es nicht mehr erwarten kann: »Na, dann machen wir Überstunden, Geständnis-Überstunden. Trotzdem, zuerst möchte ich bitten, dass man mir behilflich ist, ich möchte meine Fahrkarte nach Beijing zurückgeben, die ich heute gekauft habe; dann hätte ich gerne ein Telegramm an Ma Gaoming geschickt und ihm mitgeteilt, dass ich zwei Tage später komme.«
    »Gut, ich werde das sofort veranlassen. Aber wer ist Ma Gaoming?«
    »Der Sohn von Ma Bufang, dem hohen Kader.«
    »Ma Bufang? Ein ziemlich bekannter Name, was wolltest du von seinem Sohn?«
    »Er ist Reporter, Pseudonym Lu Ziye, bei der
Zhongguo wenhuabao
, der
Chinesischen Kulturzeitung
, der hat ganz

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