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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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der Ecke mit zusammengebissenen Zähnen die gleiche Akrobatik. Mal krümmte er seinen Körper zusammen, mal stand er kerzengerade, und sein weißes Haar schimmerte im taghellen Licht.
    Ich blinzelte, die Decke tat sich auf, der Alte begann samt dem Latrinenkübel nach oben zu schweben, er saß in der Stirnmitte.
    »Auch Gott hat Verstopfung«, dachte ich. Draußen hörte man das Zirpen von Grillen. Es war Vorfrühling, das Wetter war frostig, ich rieb mir die Nase und nieste, ich fror, ich schwitzte, und das Ungeziefer setzte sich wieder in Bewegung. Voller Ingrimm kratzte ich, als wolle ich mir die Haut wegreißen. Gegen ein Jucken in den Blutgefäßen kann man nichts machen. Schließlich bekam ich mit, wie sich der Alte nach vorne beugte, sich irgendein rotes Etwas griff, das er sich mit Gewalt hineintat.
    Ich hatte Glück, ich war nur eine Woche lang verstopft, aber die Geschwüre in der Mundhöhle hielten gut drei Wochen. Der Alte erzählte mir, das sei unausweichlich, in der Anfangszeit im Gefängnis komme die ganze Physiologie aus dem Gleichgewicht. Die Verstopfung führt zu einem Anschwellen des Unterbauchs, die Nerven werden angespannt, man wird depressiv, mir blieb nichts, ich musste in den Hungerstreik treten. Ich versuchte das Ganze als Vorwand zu benutzen, um die Verhöre zu unterbrechen und ein wenig Zeit zum Atemholen zu gewinnen.
    Wie hätte ich wissen sollen, dass nach dem ersten Tag meines Hungerstreiks das Diebesgesindel in der Zelle einen Streit vom Zaun brechen würde?! Die Kerle fixierten mich mit eigenartigen Blicken, stapelten drei Schalen Reis vor der Zellentür, um damit zu dokumentieren, dass sie sich nicht an meiner Ration vergriffen hatten.
    Mit Doppelkreuzung vorneweg ermahnten die Oberen mich reihum, aber nichts half, weder Zuckerbrot noch Peitsche, also machten sie Meldung bei der Verwaltung. Der Direktor der Anstalt trat in Aktion und lud mich persönlich vor, ich folgte ihm in sein Büro wie ein Märtyrer aufs Schafott. Ich hockte mich auf den Boden, aber er klopfte mir auf die Schulter und gab mir einen Wink Richtung Sofa.
    »Als Menschen sind wir gleichberechtigt.«
    Der alte Vollzugsbeamte nahm seine Mütze ab, zwei graue Schläfen wurden sichtbar.
    »Ich habe selbst eine Tochter, sie geht auf die Universität, in der Stadt, sie war auch in die Studentenbewegung verwickelt, man kann aber nicht sagen, dass ich für euch studierte Leute gar kein Verständnis hätte.«
    Ich ließ den Kopf hängen und hörte zu.
    »Mir ist es ganz egal, was du angestellt hast, aber ich kann dich auch nicht freilassen, wenn man dir Unrecht tut. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass keiner Probleme macht, solange er hier in Untersuchungshaft ist. Wenn du eine Straftat begangen hast, dann werden die zuständigen Leute unten sich frühzeitig um dich kümmern: Sie rufen ein paar Leute zusammen, sie wuchten dir das Maul auf und schütten und stopfen dir alles rein; und wenn das auch nicht funktioniert, dann musst du auf dem Strafbett schlafen, mit Fesseln an Händen und Füßen.«
    »Tun Sie, was Sie für richtig halten!«
    Ich zwang mich, bis zum Ende durchzuhalten, aber meine Stimme zitterte ein bisschen.
    »Keine Angst, das werde ich nicht machen! Wenn wir das an die große Glocke hängen, muss ich, wenn es hoch kommt, einen Bericht schreiben, aber den Schaden hast du. Du bist noch jung, du hast das Leben noch vor dir und solltest versuchen, hier mit heiler Haut wieder herauszukommen!«
    »Das haben die für mich zuständigen Beamten mir auch geraten«, ich lachte kalt, »sie meinen, ich müsste nur gestehen, was sie wollen, schon wäre ich ein freier Mann.«
    »So einfach ist es auch wieder nicht«, der Leiter des Untersuchungsgefängnisses senkte das Gesicht, neigte den Kopf und flüsterte: »Man muss, wie Deng Xiaoping gesagt hat, die Wahrheit in den Tatsachen suchen, man muss sagen, was man sagen muss, was du nicht getan hast, wird man dir auch nicht anlasten.«
    Da ich keine Regung zeigte, ging der Direktor aus dem Zimmer und brachte einen großen Teebecher mit dampfendem Reis und Gemüse, er lachte: »Iss nur, iss! Ich habe ein bisschen Schweineöl draufgetan und Geschmacksverstärker, schmeckt gut. Dummer Junge, du hast dir wohl den revolutionären Helden aus dem Roman ›Roter Fels‹ zum Vorbild genommen, von wegen kollektiver Hungerstreik und mit der im Gefängnis gestickten roten Fahne die Freiheit begrüßen, was? Das ist doch alles für die Nachwelt zusammengeschrieben

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