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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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wurde zusammengedrückt, nach außen gewendet und beherrschte mit seiner Buntheit das ganze Gesicht.
    Unter dem rhythmischen Geschrei der anderen und mit hochgezogenen Augenbrauen geiferte Doppelkreuzung: »Mitleid ist ein Versprechen im Knast, jetzt werden deine Einstandsformalitäten erledigt.«
    Er befahl mit betont lauter Stimme: »Und jetzt das zweite Gericht in den Topf – Mühlentofu, die kleine Portion!«
    Ich wusste nicht, was tun, ich konnte nur noch so tun, als würde ich den Rückzug antreten: »Das ist ein bisschen übertrieben!«
    Ich bewegte mich jäh Richtung Zellentür und fing an zu schreien: »Meldung!«
    Das Diebesgesindel bewegte sich rasend schnell, im Handumdrehen war jeder an seinem Platz und saß da wie immer, mit untergeschlagenen Beinen und geradem Rücken, das Diebesnest, das gerade noch vor Mordlust gedampft hatte, verwandelte sich im Handumdrehen in einen ernsten und ruhigen Ort der Kampfsportübung. Unerwarteterweise war der Beamte vom Dienst wieder mein alter Wen. Kaum hatte er aufgeschlossen und mich hinausgelassen, machte ich ihm auch schon überstürzt über alles Meldung. Er schaute mich nicht einmal schief an und gab keinen Laut von sich, wartete, bis wir um die Ecke und vor dem Büro des Diensthabenden angekommen waren, bevor er mir befahl, mich mit dem Rücken zum Geländer im Korridor hinzusetzen. Er selbst zog einen Rattanstuhl heran und setzte sich mit einem Bein über der Lehne gegen den Wind.
    »Also, was ist los?«, fragte er.
    Trocken berichtete ich ihm alles noch einmal. Während ich redete, schaute er gleichgültig mal hierhin, mal dorthin, schaute eine Weile aufmerksam seinen Kollegen zu, die am Nachbartisch pokerten.
    »Die falsche Karte!«, mischte er sich aus zwei Metern Entfernung ein.
    Verlegen hielt ich den Mund. Ich kam mir vor wie ein von den japanischen Teufeln zurückgelassener Kollaborateur und Landesverräter.
    »Red nur weiter, red nur weiter! Ich höre zu!«, ermutigte mich Wen, der weiterhin nicht bei der Sache war.
    »Schert Sie das Ganze überhaupt?« Ich konnte mir die Frage nicht verkneifen, aus dem Verräter wurde eine Hure, die zur Heirat entschlossen war.
    »Und was soll ich deiner Meinung nach tun?« Wen warf mir einen schiefen Blick zu und zog seinen Stuhl einfach zum Pokertisch hinüber. Ich erstarrte, das Blut schoss mir in den Kopf, ich hätte mich am liebsten auf ihn gestürzt und ihn zerfleischt. In diesem Augenblick tauchten Phantasiebilder aus meiner Kindheit auf, wie auf einer Traumlampe, all die kühnen Kämpfer mit ihren Gewehren, all die Erdbeben, die Messer, größer als der Himmel … durch das Geschossgeländer rollten Sterne aus kleinen Kügelchen zwischen den Berggipfeln hindurch in den Innenhof, hufeisenförmige Silberbarren klapperten in den Dachtraufen, ich wusste nicht, wie lange ich noch in diesem Käfig für wilde Tiere bleiben musste. Aber egal, hier durfte ich nicht sterben, auch wenn ich meine Selbstachtung verlor, hier nicht, nicht hier!
    Verdammte Scheiße, die hatten mir schon mit Stäbchen im Arschloch herumgefuhrwerkt, was sollte ich da noch auf mein Gesicht achten?
    Etwa eine Stunde ging es in meinem Kopf hin und her. Wen musterte mich mit der Miene eines Puffbesuchers, seine Blicke durchleuchteten mich regelrecht, und in der Nachtstimmung sagte er mit der Zartheit einer Frau zu mir: »Du musst dir aus den Sachen in der Zelle nichts machen, das bekommt dir nicht. Keine Ordnung ohne Regeln, das sind die ungeschriebenen Gesetze des Knastes, die haben eine lange Geschichte, ein paar Jahrzehnte, vielleicht auch über hundert Jahre. Ich schätze bei der Guomindang und noch weiter zurück unter den Qing ging es im Gefängnis nicht anders zu, vielleicht sorgen sogar in den Gefängnissen im Ausland die Gefangenen untereinander für Ordnung, was meinst du?«
    »In meinen Händen befindet sich eine sogenannte Speisekarte, die Speisekarte vom Kiefernberg, meinen Sie nicht, dass das ein bisschen zu weit geht?«
    »Unter Gesindel herrscht das Gesetz des Gesindels, du hast dich selbst hier hereingebracht, also brauchst du dich jetzt nicht zu beschweren, von wegen, es geht zu weit. Sitzt du nicht im Knast, weil du zu weit gegangen bist? Du bist doch nicht auf Urlaub hier, die Leute müssen wissen, was Angst ist.«
    Wen nahm seine Polizeimütze ab, klopfte den Staub ab, ich konnte sehen, was da vor mir saß: ein empfindsamer Beamter mit Putzzwang. Er würde einen Menschen töten können und dabei lächeln – wie diese vielen

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