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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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aus berühmten Adelshäusern stammenden Nazioffiziere unter Hitler, die bei Chopin und Mozart Tränen in den Augen hatten und gleichzeitig kollektiv den Befehl zur »Endlösung« der Judenfrage befolgten.
    »Mögen Sie Musik?«
    Ich hatte die Frage gar nicht stellen wollen.
    Wen schaute mich mit einem melancholischen Blick an, eine ganze Weile, ganz aufmerksam, wobei er unbewusst an seinem Ärmel zupfte: »Natürlich.«
    Er brachte mich zu meiner Zelle, und auf dem Korridor schärfte er mir noch einmal ein: »Kümmer dich nicht um Sachen, die dich nichts angehen. Ich habe jetzt schon so viel Zeit mit dir hier draußen verplaudert, jetzt werden sie dich drinnen mit anderen Augen ansehen.«
    Als ich in die Zelle kam, war das Diebesgesindel tatsächlich am Fernsehen, die Oberen boten mir einer nach dem anderen einen Platz an. Huang Gang lachte: »Der Wen ist großzügig.« Damit zog er mich neben Doppelkreuzung. Doppelkreuzung nickte versöhnlich, die Bilder auf dem Schwarzweiß-Bildschirm waren unscharf, aber alle schauten mit großem Vergnügen zu, ich murmelte: »Da drin kommt doch nichts.«
    Da sagte Doppelkreuzung aus vollem Hals, als verkünde er ein kaiserliches Edikt: »Die Konterrevolution behauptet, dass da drin nichts kommt, wo geht denn dann unsere menschliche Antenne hin?«
    Da erst fielen mir die beiden Wachen auf, die hinter dem Fernsehschrank aufragten. Einer äffte den Fahnenträger der Ehrengarde vom Tiananmen nach, stand da wie ein Brett, kerzengerade, und hielt in den Händen eine Antenne, senkrecht. Der andere stand stramm, in der Armbeuge ein imaginäres Gewehr. Der alte Shitou befahl: »Wechsel!« Auf Befehl tauschten die beiden die Stellung, wie Roboter, und vollendeten damit die »Zeremonie der Übergabe der Roten Fahne«.
    Die Antenne des Fernsehers war eigentlich abgebrochen, also musste man sie auf einen Menschen aufpfropfen. Huang Gang drückte piepend sämtliche Tasten für die Programmwahl, dann gestikulierte er herum, dirigierte den »Fahnenträger« nach links, nach rechts, weiter nach rechts, nach links, ein wenig schiefer, ein wenig gerader, weiter nach oben, kürzer, Richtung Nordosten, ein wenig schräger, Richtung Südwesten … es nahm kein Ende. Der Fernseher knallte wie eine Bombe, unter den konturlosen Bildern setzte sich auf einmal eines durch, war für ein paar Sekunden klar, um dann unter dem Gejohle der Truppe wieder in den ursprünglichen Zustand zurückzukehren.
    Für den »Fahnenträger« war das sehr anstrengend, er war schweißgebadet, Huang Gang war so aufgebracht, dass er dem Fernsehwagen jäh einen Tritt versetzte, und tatsächlich wirkte das für ein paar Sekunden Wunder. Schließlich stand Doppelkreuzung auf, griff sich das Ende der Antenne, der Bildschirm war eine Weile auch tatsächlich viel klarer, trotzdem, die obere Hälfte der Leute auf dem Bild war vollkommen verschwommen und verzerrte sich Richtung linker Ecke in einen langen Kometenschweif.
    Huang Gang lobte: »Chef ist Chef, Köpfchen muss man haben.« Bald schrie er: »Antenne zwei!«
    »Hier!«
    »Schau genau hin, was er macht!«
    Beim Fernsehen wurde so dreimal die Antenne gewechselt, ich war sprachlos. Um zehn Uhr wurde zum Bettenmachen gepfiffen, Decke und Laken waren bei mir gewechselt worden, wie auch bei meinem alten Nachbarn. In der Stille der Nacht versammelten die Oberen sich heimlich am Fuß der Wand zum Saufen, jeder nahm einen Schluck, atmete ihn regelrecht ein und wollte ein ganze Weile nicht mehr ausatmen, als sei der Schnapsdampf ein richtiger Schatz. Auch mir haben sie angeboten, einmal einen ordentlichen Schluck zu nehmen, was den Diebeskönigen im Herzen weh tat. Es stimmte schon, nach ein paar Tagen hatte sich meine »Stellung« sehr verändert, kein Wunder, dass es oft heißt, dass jemand, der in einem großen Knast gehockt hat, nie wieder verhungern wird, egal, wo man ihn hinsetzt.
     
    Aus einer Art Selbsterhaltungtrieb habe ich in meiner Zeit im Untersuchungsgefängnis auf eigene Faust viele Briefe hinausgeschafft. Um das zu können, musste ich den Oberen jeden Wunsch erfüllen. Der Durchlauf an Menschen war hier ungeheuer groß, jeder Neuankömmling hatte Umerziehung durch Arbeit, Inhaftierung oder Freilassung als Möglichkeit vor sich, der Weg in den Himmel und der Weg in die Hölle waren gleich breit.
    Der »Postweg im Untergrund« kam da gerade recht, verbotene Waren wurden von Freigelassenen (oder von Leuten, die vor der Entlassung standen und in den Gängen irgendwelche

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