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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Handwerksarbeiten zu verrichten hatten) mit hinausgeschafft, draußen auf der Post aufgegeben, es gab eine ganze Reihe von Beamten im Untersuchungsgefängnis, die es nicht so genau nahmen, weshalb sich derartige Aktivitäten oft nicht unterbinden ließen.
    Nachdem Huang Gang und Shitou sich nach dieser »Aussprache« mit mir verbrüdert hatten, bargen sie oft irgendwelche privaten Sachen von mir in ihrem Hemd, wenn sie mit dem »Tunnelgesindel« durch die Zellentür sprachen, um zu sehen, ob sie sich nicht Zeit nehmen könnten, etwas mitzunehmen. Meine »neuen Vergehen« wurden mehrfach aufgedeckt, aber als ich schon die Flinte ins Korn werfen wollte, geschah auf einmal ein Wunder.
    Als ich im Mai 1994 von dem Lyrikkritiker Yang Yuanhong bei einem Umtrunk erfuhr, dass er noch einen dieser Anklagebriefe, die ich damals aus dem Gefängnis herausgeschickt hatte, aufbewahrte, hatte ich das Gefühl, der komme aus einer anderen Welt: War das alles wirklich einmal passiert? In diesem Brief impfe ich ihm sogar ein, wen alles er zu informieren habe und was er alles auf keinen Fall zugeben dürfe. Yang, der alte Säufer, nahm meine Hände in seine und ließ sie lange Zeit nicht mehr los. Mit feuchten Augen erzählte er mir, dass es ihm in diesen Jahren schlechter gegangen sei, als wenn er im Gefängnis gesessen hätte.
    Damals, erzählte er, seien die illegalen Dichter in alle Himmelsrichtungen auseinandergestoben wie Vögel vor der Katze. Die Feifei-Dichter Lan Ma und Yang Li hätten ihn auch über ihre Flucht informiert, »aber diese Welt ist zu klein«, seufzte er voller Wehmut, »wo soll man denn hin?«
     
    Mein Untersuchungsleiter war ein Abteilungsleiter namens Qin, ein Mann mit dunklem Gesicht und weißem Gebiss, der offensichtlich durch die Flammen des revolutionären Krieges geläutert war. Daher bildete er sich wohl ein, seine Vorstellungskraft sei besonders entwickelt und er sei mehr Dichter als ich. Er verhandelte meinen Fall wie einen drittklassigen Kriminalroman – zuerst einmal schlussfolgerte er aus selbstgemachten Hypothesen auf Beweggründe, Details und Resultate, dann preschte er in die festgesetzte Richtung los. Wenn ein Angeklagter den Mut aufbrachte, Vorbehalte geltend zu machen (oder sich das Ganze in eine unvorhergesehene Richtung entwickelte), konnte er sich auf ihn stürzen wie ein Jagdhund, um so den Widerstand aus dem Weg zu räumen. An diesem Punkt führte jedes Ausweichen oder jeder Versuch, den wahren Sachverhalt zu klären, unweigerlich zu einer Erhöhung seines Kampfeswillens.
    »Wenn wir etwas haben, dann ist es Zeit!« Jedes Mal, wenn er ein Verhör beendete, ermutigte er mich gewohnheitsmäßig auf diese Weise und streckte absichtlich unabsichtlich die Hand aus. Wenn man dann versuchte, die Hand zu ergreifen, dann war das der größte Fehler, den man machen konnte – Qin, anstatt einem die Hand zu geben, nahm einen scharf ins Visier (das war das Harte im Weichen, wie man so schön daoistisch sagt), und man hatte das Gefühl, man ist einen halben Schritt davon entfernt, dass einen das Volk wieder in die Arme schließt.
    Diese Verhöre schnitten wie eine schwerfällige Säge ins Gehirn; wenn sie zum Nervenzentrum vordrangen, vergaß man alles, viele wurden von einer Art Schmerz regelrecht geblendet und verschleppt.
    »Überlegen wir einmal, wo ihr damals wart, wer war dabei, neben wem hast du gesessen und auf einmal so hastig Notizen gemacht? Zwischendrin bist du zweimal aufgestanden, einmal, um auf die Toilette zu gehen, einmal, um über das ›Requiem‹ zu sprechen, richtig?«
    »Sieht aus, als seien Sie dabei gewesen.«
    »Ich war nicht dabei, aber die Geständnisse von deinen sämtlichen Mitangeklagten stimmen in diesem Punkt erschreckend überein. Jetzt mal im Ernst, nimm dazu Stellung!«
    »Zu welchem Punkt?«
    »Mit diesem entscheidenden Punkt darfst du nicht hinter dem Berg halten. Wir könnten dich daran erinnern, aber dann ist das passiv.«
    Ich versank wie in fünf Meilen Nebel und schwieg gewichtige fünf Minuten lang – was sollte ich machen?
    »Ist es dir wieder eingefallen?«
    »Nein«, ich lachte dumm und hatte ein schlechtes Gewissen, »ich habe letzte Nacht nicht schlafen können.«
    »Und den Schlaf willst du jetzt nachholen?«, fragte Qin besorgt. Ich nickte dankbar.
    »No way!«, brüllte der Sekretariatsangestellte.
    »Ja, es ist ausweglos«, sagte ich, als würde ich im Sterben liegen, »das Leben ist sinnlos, da sind die Toten besser dran, sie leben ewig in der

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