Für ein Lied und hundert Lieder
Erinnerung, nicht nah, nicht fern. Die Seele, das ist ein Geist in den Wolken, das sogenannte ›Requiem‹ ist nichts als ein Vorwand, um die Seelen aus dem Fegefeuer zu retten und bei dieser Gelegenheit selbst wiedergeboren zu werden.«
»Aufschreiben!«, befahl Qin seinem Gehilfen.
»Am 9. März um 10.00 Uhr in der Früh bist du mit Wan Xia zusammen aus der Wohnung von Liu gekommen, hast die Straße überquert und dich zum Drehort begeben; ihr beiden habt euch am Tor der Universität für Militärmedizin eine Weile unterhalten, erinnerst du dich?«
»Wan Xia hat mich nach dem Titel für den Film gefragt.«
»Richtig.«
Ich lachte ihn aus: »Als ob moderne Dichter noch über Titel reden würden! Sie sind ein Amateur.«
»Trotzdem, am Ende hast du deinem Herzen Luft gemacht und ein Requiem für die Rebellen vom 4. Juni geschrieben.«
»Nein, ›Requiem‹ ist allgemein gemeint, es hat keinen speziellen Bezug, das ist ein Requiem von mir, Liao Yiwu, für alle Toten, früher, jetzt, in China und außerhalb.«
»Auch für die am 4. Juni unterdrückten Rebellen?«
»Sie sind ein Amateur, Sie haben einfach nicht genug Phantasie!«
»Das nennt man in der Dichtung Assoziation, ich verstehe das schon, lyrische Assoziation um die Geschehnisse am Tiananmen. Wan Xia hat sich also an deine Hinweise gehalten.«
»Meine Hinweise? Und wer hat von mir noch Hinweise bekommen?«
»Immer mit der Ruhe, das werden wir klären. Warum hast du dich einem solchen Risiko wie diesem Film ausgesetzt? Und bist nach Beijing mit dem Ziel der Ausreise? Und beim Drehen des Films, weshalb ist da das Ehepaar Liu nach Fuling gekommen? Die ganze Kette von Umständen ist doch kein Zufall!«
»Wusstest du vorher, dass Michael Day ein Kulturspion ist?«
»Die Frage habe ich schon ein paarmal beantwortet!«
»Deine Erkenntnisse sind sehr verschwommen, hast du ihn nicht, um dir einen Namen zu machen, mit einer Menge von kulturellen Informationen versorgt: Untergrundgedichte, Untergrundpublikationen und Untergrunddichter, Schritt für Schritt bist du da mit hineingezogen worden, bis zur Zusammenarbeit an der ›Massaker‹-Kassette. Und danach hat er dir neunhundert Yuan geschickt, für die Videobänder eures Films, das ›Requiem‹.«
»Das war Essensgeld, das hat er mir gegeben, weil er zweimal bei mir zu Hause war und ziemlich lange bei uns gewohnt hat. Er hat acht Jahre Sinologie studiert, er liebt China.«
»Er liebt China? Ein kanadischer Agent, der China liebt? Haha.«
»Solche Gefühle gehen über Ihren Horizont.«
»Er hat dich mit seiner ›Liebe‹ in den Knast gebracht. Soll ich dir noch einmal vorlesen, was ich an Hintergrundmaterial über ihn habe?«
»Darin geht es bloß um unsere Ansichten speziell zum 4. Juni, und nicht um Feindschaft dem ganzen Staat gegenüber, eine Meinung wie die meine über den Umgang mit den Demonstrationen auf dem Tiananmen ist wohl immer noch dem Generalsekretär Zhao Ziyang vorbehalten – warum sollten Michael Day und ich unsere Meinung nicht äußern dürfen? Ihr habt doch selbst zugegeben, dass es damals im Zentralkomitee zwei Meinungen gab.«
»Dein Delikt liegt nach dem 4. Juni.«
»Nein, das war gleichzeitig, die Literaten drehen ihr Fähnchen nicht so schnell, wie ihr das tut.«
»Das ist dein Instinkt, der dich das sagen lässt. Nach der Darstellung von Spezialisten warst du in den 80er Jahren ein Repräsentant bourgeoiser Libertinage auf dem Gebiet der Lyrik, die Entwicklung von ›Die tote Stadt‹, ›Die gelbe Stadt‹ zu ›Massaker‹ und ›Requiem‹ ist das unausweichliche Resultat davon.«
»Die Ausbeute heute ist sehr anständig, mit den vielen Tagen davor, alles in allem ein recht guter Anfang«, Qin zeigte sein Gentry-Lächeln [29] , »lies dir das Protokoll durch, unterschreib, nach dem Mittagessen reden wir weiter.«
Ich sah das Ganze hastig durch und wies ihn auf einen gravierenden Schreibfehler hin: »Hier muss es Eliot heißen, nicht Idiot!«
Qin schüttelte den Kopf und seufzte: »Du wirst ein Leben lang ein Idiot bleiben, irgendein Dichter, ein Lump.«
»E-liot ist ein großer englischer Schriftsteller, er ist seit Jahrzehnten tot.«
»Du holst das Lumpenpack sogar noch aus den Särgen, das zeigt nur, wie weit die bourgeoise Libertinage in deiner Kunst geht.«
Ich wurde wütend und warf meinen Becher auf den Boden.
»Abschaum!« Der dunkelgesichtige Qin schlug auf den Tisch. »Ich sage dir, Liao Yiwu, die Volkspolizei, das sind keine
Weitere Kostenlose Bücher