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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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ist, wo Fische und Drachen, Gutes und Böses sich mischen, bleibt einem nichts anderes übrig, als selbst die übelsten Gewohnheiten anzunehmen – wenn man überleben will.
    Gestern Abend hat mich mein Freund Li Yadong zum Feuertopf-Essen eingeladen. Am Geländer der großen neuen Brücke am Südtor lehnte ein Bettler und befriedigte sich selbst, in aller Öffentlichkeit. Ich blieb stehen, um das Schauspiel zu genießen, ich war ganz hin und weg. Der gute Li hingegen hätte sich beinahe übergeben. Dieser Bücherwurm, der noch nie an vorderster Front gewesen ist, zog mich mit gesenktem Kopf weg, widerstrebend wandte ich den Kopf zurück und murmelte: »Ein solcher Anblick wird einem nicht an jeder Straßenecke geboten.«
    Der gute Li starrte mich an und sagte halblaut: »Du bist ein bisschen zu gesund, das ist ja schon fast krank.«
    »Wieso krank? Ich verputze bei jeder Mahlzeit drei Schalen.«
    »Schwein!«
    Ich konnte nicht umhin, ich musste zugeben, ich lebte wie ein Schwein. Ich war faul und lag bis um halb elf in der Kiste, dann stand ich auf und übergoss mich mit kaltem Wasser, streckte mich, brachte wieder Leben in die Knochen, und dann machte ich mich mit ganzem Herzen ans Fressen. Song Yu, meine Verlobte, machte mir Vorhaltungen, ich gäbe beim Essen ein schlimmes Bild ab, nur arme Leute würden so fressen, als müssten sie sich noch schnell den Bauch vollschlagen, bevor der Himmel einstürzt. Ich konnte mir nicht leisten, krank zu werden, aber in diesem Saustall von einem Staat musste man einen eisernen Magen haben, der alles verdauen konnte.
    Der Magen eines Augenzeugen nimmt den Geschmack der Menschen um sich herum nicht durch Gedanken auf, er leckt ihn auf und kaut ihn, das geht über die Zähne, das Blut, die Knochen, aus der Erinnerung an den Zeitgeschmack gärt der verdorbene Geschmack der Erinnerung an die vergangenen Zeiten heraus. Die Leute sind scharf auf Geld, alle, und genauso scharf sind sie darauf, die stinkige Kohle zu verfluchen, deshalb ist es Mode geworden, »hinter dem Gestank herzulaufen«.
    Motto meiner Schreiberei ist: »Auf einem Schwein wachsen Borsten.«
    Um eine Sache genau und aus dem Effeff zu begreifen, muss man sich in sie verbohren, wie eine Fliege, mit einem widerlichen Sirren, und man muss sich in Acht nehmen vor flachen Händen. Aber du machst diesen dreckigen Job, ein Leben lang, wie dieser Arzt aus der Antike, der das Leiden seiner Epoche aus dem Geschmack der Exkremente der Leute diagnostizierte.
     
    Ich war ungewöhnlich gut im Fangen von Läusen und Flöhen, in unserer Zelle hielt ich ruhmreich den Rekord von 73 in einer Stunde, das war der Thron. Trotzdem, als ich zum ersten Mal eine weibliche Laus gesehen habe, habe ich doch am ganzen Körper eine Gänsehaut bekommen. Diese achtfüßigen Läuse waren pechschwarz und durchscheinend wie in Öl gebratene Sesamkörner, dieser speziell für die Hoden gedachte Parasit bohrt mehr als die Hälfte seines Körpers in die fleischige Haut, man muss sie erst mit einem Zahnstocher hinmachen und kann sie erst dann Stück für Stück herausziehen. Der alte Shitou sagte mir, wobei er seine blutverschmierten Eier in der Hand hielt, das sei eine hundsgewöhnliche Geschlechtskrankheit, man müsse sich nur das Schamhaar abrasieren, das Ganze mit Insektentod einschmieren, damit könne man dem Ganzen an die Wurzel gehen – aber welcher Arzt im Untersuchungsgefängnis wäre schon bereit, einem Kriminellen den Unterleib zu untersuchen?
    Shitous nächtliche Kratzerei an seinen privaten Teilen war erschütternd. Einmal muss es so gejuckt haben, dass er sich mit einem wütenden Brüllen aufsetzte. Sofort traten die Felldiebe in Aktion, stürzten sich auf ihn und brachen ihm schier die Hüfte beim Fangen seiner Läuse. Der alte Shitou suchte sich einen jungen gescheiten Wachmann, warf die anderen hinaus, hob entmutigt den Kopf und machte gegen die Wand gelehnt ein Nickerchen. Wenn er unten etwas erntete, schnitt er oben Grimassen, ein bemerkenswerter leidender Jesus.
    Meine turnusmäßigen Verhöre verursachten mir schlaflose Nächte, immer wieder musste ich mir diese schmutzigen Szenen anschauen, vom Ekel zur Gewohnheit und weiter bis zu einem unterbewussten Ergötzen, »ein wonnevolles Jucken«, und ich fing automatisch an, mich am ganzen Körper zu kratzen.
     
    Im Gefängnis war die Dämmerung am schwersten erträglich, um fünf Uhr Nachmittag gab es Abendessen, um 10.00 Uhr abends läutete die Schlafglocke. Die fünf Stunden

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