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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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genug?«
    Von einer Ohrfeige getroffen zuckte sein Kopf zurück. Ein Zweiter sprang ihm zur Seite und sagte mit einem Lächeln auf dem Gesicht: »Wenn ich die Augen schließe und mir an den Unterleib fasse, habe ich zwei Mantous in der Hand.«
    Resultat: Er wurde mit einer Kippe so verbrannt, dass er gar nicht mehr aufhörte zu schreien.
    Der dritte Bittsteller applaudierte: »Alle Achtung, du Xanthippe!« Mehr sagte er nicht, er zog erst drei Mantous aus der Hosentasche und warf sie hinein. Von drinnen kam sofort die Botschaft: »Dieser Herr soll offen und ehrlich eine Ganze streicheln dürfen!«
    Als das Diebesgesindel das hörte, wurden ihnen die Knochen weich. Nachdem sie wie die Hunde hochjappten, seufzte einer staunend: »Ach herrje, wenn man da draufdrückt, dann tropft es bestimmt.« Aber er versetzte dem Lotteriegewinner einen Rippenstoß.
    Ich schaute einen halben Tag ruhig zu, es interessierte mich nicht, fand ich, und ich wollte gerade gehen, als ich hinter mir hastige Schritte hörte. Das Diebesgesindel rief warnend: »Der alte Teufel Huang kommt!« Im Nu stob alles auseinander – und ein paar trockene Mantous polterten auf den Boden.
    Im Handumdrehen war der Wachhabende Huang, der böse Stern, mit großen Schritten und umgekehrtem langem Knüppel heran. »Verkommene Bande!«, brüllte er und warf sausend den Knüppel, den er in der Hand hielt. Ich legte instinktiv den Kopf zur Seite und spürte einen zischenden Lufthauch an meinem Ohr. Mit dem Zischen schoss auch der gute Huang heran, wie ein D-Zug riss er das ganze ringförmige Stockwerk mit, als er dröhnend dreimal die Runde machte, bevor er den Rhythmus vor mir verlangsamte. Er schnaufte und meinte, immer noch ohne mich schief anzusehen: »Konterrevolution, verlier nicht dein Selbstwertgefühl!«
    Ich war rot vor Scham und wollte erklären, aber er winkte ab und ging mit sorgenschwerem Schritt davon. Nach so vielen Tagen hatte ich endlich eine gewisse Leere erreicht, einen Korridor, an dessen Ende ein schwaches Licht leuchtete, diese fast traumhafte Realität berührte mich, und mir fiel die Würde des Literaten, die ich schon so lange vergessen hatte, wieder ein.
    »Würde?!«, ich schnappte nach Luft, »brauchte ich am Ende einen Polizeibeamten, um mich an meine Würde zu erinnern?!«
    Aber manchmal hat ein Mensch keine Wahl, er muss seine edleren Eigenschaften und seine Würde vergessen, wenn er überleben will.
    In der Frauenzelle versuchte jemand, einen schönen Kopf durch die Fressluke zu strecken: »Habt ihr nun Mantous oder nicht?«
    Eine süße Stimme, die einen ganz gefangen nahm, gab die Preise bekannt: »Große Brüste, die ihren Preis wert sind, einmal anschauen, ein Mantou, einmal anfassen, zwei.«
     
    Wie man sich erzählte, belief sich die Verweildauer im Untersuchungsgefängnis im Allgemeinen auf höchstens drei Monate, deshalb verfiel ich wie alle anderen Kriminellen immer größer werdenden Illusionen, vor allem, als ich schon über 80 Tage drin war. Wie ein Rassepferd, dem man eine Stimulanz gespritzt hat und das nicht laufen darf, scharrte ich in meinen Träumen mit den Hufen. Der Rhythmus meiner Zellenspaziergänge wurde schneller, und ihre Frequenz nahm zu; beim Hofgang ging ich den großen Kreis; wenn kein Hofgang war, marschierte ich an der Grenze zwischen den Oberen und den Unteren in der Zelle herum, am Ende des Wegs machte ich eine scharfe Kehrtwende. Am Anfang lachte das Diebesgesindel mich noch aus, später fanden sie nichts mehr zu lachen dabei. Durch zwei Eisengitter von mir getrennt wartete auch der Klare, nur seine Wartemethode war eine andere: Er saß einfach da, mit dem Gesicht nach oben, beide Augen blutunterlaufen; auf diese Weise ist er nach und nach bis auf die Knochen abgemagert.
    Ich erinnere mich, dass er sämtliche Mitgefangenen in seiner Zelle seinen ersten Monat vor Gericht mit einem »fröhlichen Abend« feiern ließ. Er trug Anzug und Krawatte, vor der Brust eine große rote Blume, herausgeputzt war als Bräutigam, der die »Braut« im Arm hält, und behände und anmutig tanzte. Durch die Türgitter hob er einen aus Stanniolpapier gefalteten Silberbecher und gab mir mehrfach ein Zeichen.
    Ich war tief beeindruckt, ballte die Faust, machte eine Trinkbewegung und rief: »Ich wünsche dir die Freiheit!« Mir war in diesem Augenblick alles egal.
    Wie überrascht war ich, als der Klare einstimmte! Und dann das Diebesgesindel hinter ihm, wie ein Mann wiederholten sie wieder und wieder das Wort

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