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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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abgeschlossene Geist brach auf.
     
    An dieser Stelle meiner Aufzeichnungen wurde ich wieder gezwungen, den Stift aus der Hand zu legen. Aus Beijing kam die Nachricht, dass Liu Xiaobo verhaftet worden ist. Am Nachmittag des nächsten Tages wurde er zu drei Jahren Umerziehung durch Arbeit verurteilt. Die Nachricht entsetzte mich, ich konnte nichts sagen, aber meine erste Reaktion war, die Arbeit, die ich gerade unter den Händen hatte, sofort woandershin zu schaffen. Letztes Jahr am 10. Oktober hatte die Polizei überraschend meine Wohnung gestürmt und Manuskripte mit 300 000 Schriftzeichen konfisziert, darunter auch einen unter abenteuerlichen Umständen aus dem Gefängnis geschafften offenen Brief der politischen Gefangenen an die Weltöffentlichkeit, der Schreck steckt mir heute noch in den Gliedern.
    Schreiben geschieht immer unter großer Angst, und es ist schwieriger als im Gefängnis, weil die Bedingungen ständig wechseln. Liu Xiaobo und Liu Xia sind erst vor einem Monat in Chengdu vorbeigekommen und haben eine Menge Leute besucht, wir hatten eine außerordentlich gute Zeit. Die beiden haben auch noch eigens für Song Yu und mich Klamotten gekauft, Xiaobo sagte, das sei das erste Mal in seinem Leben gewesen, dass er für die Frau eines Freundes etwas zum Anziehen gekauft habe. Ich fühlte in mir drin etwas sehr warm werden, aber ich konnte nichts sagen. Mit Liu Xia bin ich seit vielen Jahren befreundet, wir haben trotzdem kein ernsthaftes Wort miteinander gewechselt, wenn ich etwas Ernsthaftes gesagt hätte, hätte ich mich nicht wohlgefühlt.
    Wir hatten eigentlich vorgehabt, zusammen zur Jiuzhai-Schlucht zu fahren, aber da schlechtes Wetter war, ließen wir es. Wenn ich früher gewusst hätte, dass Xiaobo in den Knast müssen würde, dann hätten wir auf jeden Fall hingehen sollen. Jetzt ist alles zu spät, in drei Jahren kann so viel passieren.
    Mir bleibt nichts anderes, als zu Hause zu sitzen und zu warten, ich weiß ganz genau, dass ich nichts getan habe, aber ich sitze immer noch wie auf Kohlen. Song Yu neben mir strahlt wie die Sonne im Herbst, ich halte ihre Hand fest und zwinge mir ein fröhliches Gesicht ab, aber innerlich bebe ich. Seelisch bin ich bis heute nicht aus dem Gefängnis herausgekommen. Kann das Glück in einem einzigen Augenblick komplett verlorengehen?
    Wie jemand vom Geheimdienst weiche ich auf der Straße aus, ich habe Dutzende Male bei Liu Xia angerufen, aber es hat nie jemand abgenommen. Bai Yunfeng war ebenfalls im Ungewissen. Heute Vormittag habe ich Liu Xia endlich gefunden, es kam ein Anruf aus Beijing, Liu Xia wurde von Weinkrämpfen geschüttelt, sie sagte nur einen Satz: »Sie lassen mich nicht!« Ich brachte keinen halbwegs tröstlichen Satz heraus.
    Dass ein Mensch einfach verschwindet und in einem Abstand von Jahren auf wundersame Weise wieder auftaucht, wie oft war das schon regelrecht turnusmäßig vorgekommen? Im Angesicht all dieser vorbestimmten Schicksale habe ich kein Gedicht mehr schreiben können, wahrscheinlich habe ich auch aus den Gedichten der anderen den Schrecken des Fatums nicht herauslesen können. Xiaobo hat sich mit aller Kraft gegen diesen Schrecken gestemmt und war in einer ganzen Reihe von historischen Angelegenheiten aufgegangen, er hatte einen großen Namen, viele Freunde, er hatte einen guten politischen Riecher – eigentlich hätte er fliehen können, aber er hat es nicht getan. Jetzt saß er schon zwei Jahre, dieses Mal würde er vielleicht in die Provinz Heilongjiang müssen, das nur durch einen Fluss vom äußersten Osten der früheren Sowjetunion getrennt ist – es hatte etwas von den Dezembristen. [36]
    Wir waren schon so schwach, wir würden einander nicht wiedersehen können. Vor kurzem hat Xiaobo die mir sehr wertvollen »Gesammelten Werke von Václav Havel« mitgehen lassen und mich dann bei einem Ferngespräch aus Beijing auf die Palme gebracht, von wegen, er lese gerade mit großen Respekt »Die Macht der Machtlosen«, dieser Titel beschreibe exakt seine Situation. Er lachte ein sehr schmutziges Lachen, wie der verkommene junge Kerl, der neben mir wohnt. Ich wäre am liebsten zu ihm rüber und hätte ihm eine reingehauen. Wenn sich so ein Rachegedanke nur drei Jahre lang konservieren ließe, wenigstens drei Monate oder drei Tage, das Gefühl der Wechselhaftigkeit des Lebens wäre nicht mehr so stark.
    Gott bewahre dieses Manuskript davor, in die Hände der Sicherheitsorgane zu fallen! In unruhigen Zeiten bedeutet Schreiben die

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