Für ein Lied und hundert Lieder
»Freiheit«, als würden sie jemanden hochleben lassen, es hallte durch das ganze Gebäude. Der Klare ging spontan auf die Knie und fing an zu heulen …
Der Lärm war zu weit gegangen und hatte die Wachhabenden aufgeschreckt. Der Klare wurde mit einem Seil gefesselt, aber er war nur noch am Lachen. Am nächsten Morgen nach dem Frühstück machte er dreimal Kotau, wie die Alten, und fing an mit dem Stillsitzen des Kriegers, das er jetzt noch machte.
»Zweiunddreißig Tage!«, rief er.
Am nächsten Tag rief er: »Dreiunddreißig Tage!«
Und an allen folgenden Tagen hat er außer diesem Ausrufen der Anzahl der Tage, die er schon vor Gericht stand, keinen Ton mehr von sich gegeben. Wem galt sein Sitzstreik? Gott?
Bei den Studentenunruhen ’89 gingen einige auf den Stufen der großen Halle des Volkes auf die Knie und streikten, ein Brennpunkt des internationalen Interesses – und dem Klaren, der selbst so vernarrt war in die Schauspielerei und sich nach einer Hauptrolle auf der Bühne sehnte, war diese Szene sicherlich vertraut. Und doch hat sein Publikum die Geduld mit ihm verloren, ich habe den Verdacht, dass es auch dem Gott auf die Nerven ging – aber er schrie unbeirrt weiter: »Vierundvierzig!«
Am Ende hatte er 45 Tage aushalten müssen, die Leute von der Staatsanwaltschaft hatten keine Haftuntersuchung gegen ihn angestrengt. Auf einmal war der Klare auf den Beinen und fing einen Springtanz an. Und er sprang sehr gut, dazu noch sein dunkles Gesicht, er sah aus wie ein Schwarzafrikaner.
Auch ich sprang von meinen Studien auf, einen Augenblick lang war mir schwindlig, ich sah Sternchen und hatte einen Krampf, doch in dem Augenblick, als ich die Stäbe der Zellentür packte und den Kopf senkte, summte die verlorene Seele gegenüber durch einen Zeittunnel hindurch ein flackerndes Spiritual. Der dunkle Schatten zog ein schwarzes Schwert und versuchte, mich damit zu durchbohren, ich hörte meine Seele davonlaufen …
Der Klare wurde am Vormittag seines 47. Tages in Untersuchungshaft für drei Jahre in den Vollzug zur Belehrung durch Arbeit geschickt. Ich begleitete ihn mit meinen Blicken, er schaute mich mit ganz schlechtem Gewissen an, wie ein Kind, das man bei einer Lüge ertappt hat.
Ich setzte, ein wenig geistesabwesend, meine Spaziergänge fort. Es wurde heiß, die Menschen, die mir vertraut waren, verschwanden einer nach dem anderen, selbst mein alter Bettnachbar war weg und der des Diebstahls von Grabbeigaben Verdächtige, der gerade angefangen hatte, mein Busenfreund zu werden. Der Trick, der am Ende zu seiner Freilassung führte, war eisernes Schweigen.
Jetzt, wo ich meine Beschreibung des Untersuchungsgefängnisses vom Kiefernberg abgeschlossen habe, wird es kleiner. Am Ende verliert dieses schwarze Universum die Farbe und verwandelt sich in eine irgendwo in den Tiefen der Seele abgelegte Streichholzschachtel, Hunderte von Gefangenen bilden von Asche bedeckte und feucht gewordene Streichhölzer, Dinge, mit denen ich, um heil zu bleiben, niemals in Kontakt kommen wollte, so wenig, wie ich jemals erfahren wollte, was der Unterschied zwischen den verschiedenen Streichhölzern ist.
Wenn mich meine Kinder später einmal nach dieser Zeit fragen, dann werde ich sagen, sie war wie der Arbeitsmarkt bei der Neun-Augen-Brücke in Chengdu, die Polizei, das sind die Arbeitgeber, die alle zwei oder drei Tage hereinkommen und auf einige »Waren« zeigen. Und ein Großteil dieses »Warenbestands« liegt zusammengekrümmt und in Decken gehüllt am Straßenrand, im Freien, in kalten Wintern sind da auch schon Menschen erfroren.
Anfang Juni kam schließlich jemand von der Staatsanwaltschaft in Chongqing und gab meine Verhaftung bekannt. Da mir, als ich die Treppe herunterkam, ein dickbauchiger grober Kerl den kahlen Kürbis liebevoll streichelte, weigerte ich mich, irgendeine Frage zu beantworten. Nach der Feuertaufe, die ich in den vergangenen drei Monaten im Gefängnis erhalten hatte, kannte ich mich mit sämtlichen Gesetzen und Verordnungen dieses Staates aus. Obwohl ich keinerlei reales Ergebnis erwarten konnte, konnte ich doch wenigstens ein wenig mein Gesicht wahren. Zum Beispiel machte es das Untersuchungspersonal rasend, wenn ich es anschwieg. Sie versuchten es mit Fäusten und Fußtritten, da antwortete ich mit übertriebenem Gebrüll statt mit dem stillen Protest eines Gelehrten. Der Direktor des Untersuchungsgefängnisses, der, wenn er davon Wind bekam, auf dem Plan erschien, stand dann vor
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