Für eine Nacht
Aufmerksamkeit mit, das gehört sich so. Raina hat uns bei sich aufgenommen, obwohl sie selbst nicht ganz auf der Höhe ist. Also bin ich zurückgekommen, um meine Brownies zu holen. Als Zeichen der Dankbarkeit«, schnatterte sie weiter. »Und weil Charlotte in ihrem Zustand so wild auf Schokolade ist.«
»Wo hast du die Brownies denn?« Rick betrachtete ihre leeren Hände.
Chase vermutete, dass er ein paar der Leckerbissen abstauben wollte.
»Sie sind schon im Auto. Eldin wartet draußen auf mich.« Pearl deutete zur Tür. »Aber ich wollte euch noch sagen, dass Samson weg ist. Ihr habt ihm doch eingeschärft, im Haus zu bleiben, aber da ist er nicht mehr. Und als ich das gemerkt habe, dachte ich, ich sollte euch sofort Bescheid sagen. Ich wollte nicht als Komplizin verhaftet werden, wenn ich sein Verschwinden nicht melde.« Sie nickte zufrieden, überzeugt, ihre Bürgerpflicht getan zu haben.
Das hatte sie auch, dachte Chase. Wenn auch aus ziemlich verworrenen Gründen.
Rick legte ihr einen Arm um die Schulter und brachte sie zur Tür. »Du hast vollkommen richtig gehandelt«, versicherte er ihr.
Wieder nickte Pearl. »Da ist noch etwas, was ich euch vielleicht schon früher hätte sagen sollen.«
Rick blieb stehen und runzelte die Stirn. »Was denn?«
»Samson hat mir erzählt, dass irgendjemand ihm nachstellt; ein Mann, der überall da auftaucht und nach ihm fragt, wo er kurz zuvor gewesen ist. Als Eldin und ich ihm rieten, sich an dich zu wenden, meinte er nur, er würde sich deswegen keine grauen Haare wachsen lassen. Wenn der Typ ihn umbringen wollte, hätte er schon reichlich Gelegenheit dazu gehabt.« Pearl zupfte nervös an ihrem Morgenmantel herum. »Ihr wisst ja, wie er ist – störrisch wie ein Maulesel. Er traut keinem Menschen über den Weg und will sich partout nicht helfen lassen. So war er schon immer.« Sie ließ den Kopf hängen. »Ich dachte nur, dass ihr das wissen solltet.«
Chase sog zischend den Atem ein, dann zwang er sich zur Ruhe. Während Rick Pearl zum Auto begleitete, wurden Chase zwei Dinge klar. Die Vorhaltungen seiner Brüder hatten ihn abgelenkt, deswegen hatte er das Gästehaus nicht die ganze Zeit im Auge behalten, um sicher zu gehen, dass Samson sich nicht klammheimlich aus dem Staub machte. Und solange er sich in der Stadt herumtrieb, durfte er Sloane keinesfalls alleine lassen.
Wenn ihr Vater sich auf die Suche nach ihr gemacht hatte, schwebte Sloane in genauso großer Gefahr wie Samson selbst.
Die Luft im Baumhaus roch nach Herbst. Die Holzwände hielten den schneidenden Wind ab, aber durch ein kleines Fenster wehte ein kalter Luftzug hinein. Sloane zitterte vor Kälte, aber sie achtete nicht darauf. Sie wusste nicht, wo sie sonst hätte hingehen sollen, und so würde sie ihre letzten Stunden in Yorkshire Falls eben hier verbringen.
Sie zog die Beine unter sich, schloss die Augen und lehnte sich gegen die Wand, doch dann schrak sie zusammen, weil sie hörte, wie jemand die wacklige Leiter hochkletterte.
Als sie ihren Besucher erkannte, verschlug es ihr vor Überraschung fast die Sprache.
Samson zwängte sich durch die schmale Tür und setzte sich neben sie. Sloane musterte ihn argwöhnisch. Warum war er ihr hierher gefolgt, wo er sie doch kurz zuvor so kalt abgefertigt hatte? Da sie nicht gewillt war, den ersten Schritt zu machen, schlang sie die Arme um die Knie und wartete ab.
»Du verdienst einen besseren Vater als mich«, stellte Samson schließlich fest.
Sloane krallte die Finger in den Stoff ihrer Jeans. »Die Entscheidung darüber solltest du lieber mir überlassen. Keiner kann sich seine Eltern aussuchen. Dafür ist das Schicksal zuständig.« Und sie war bereit, den Mann zu akzeptieren, den das Schicksal zu ihrem Vater bestimmt hatte. So, wie er war.
Er trug eine zu große grüne Militärjacke und zerknitterte Khakihosen. Sein zottiges weißes Haar war windzerzaust, und sein bärtiges Gesicht trug deutliche Spuren eines Lebens, das nicht gerade sanft mit ihm umgesprungen war. Aber in seinen Augen las sie Gefühlsregungen, die sie zuvor nicht bemerkt hatte. Er war offenbar ein Mensch, der seine Gefühle tief in seinem Inneren verschlossen hielt und nur menschliche Regungen zeigte, wenn er Vertrauen zu jemandem gefasst hatte.
Und da Sloane seinen Schutzpanzer schon teilweise durchbrochen hatte, hoffte sie zuversichtlich, nun auch noch sein Vertrauen erringen zu können.
»Und deshalb hast du nun mich am Hals.« Er schob die Hände in die
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