Für eine Nacht
Izzy.
»Ganz meinerseits.«
Sloane trat auf die Straße hinaus. Sie blickte zu dem hübschen kleinen Park mit dem Springbrunnen in der Mitte hinüber und empfand mit einem Mal leises Bedauern, weil sie ihren Besuch nicht ausdehnen und die Stadt erkunden konnte.
Sie fragte sich, ob Jacqueline gern hier gelebt und ob sie viele Freunde gehabt hatte. Ob Samson das wusste? Vielleicht konnte er ihr Geschichten über die Zeit erzählen, die ihre Mutter hier verbracht hatte.
Sie presste eine Hand gegen ihren nervösen Magen. »Steig einfach ins Auto und fahr los«, befahl sie sich selbst.
Ein paar Minuten später bog Sloane Izzys Anweisungen gemäß in die Old Route Ten ein. Bald machten die Häuser einer langen Reihe von Bäumen Platz, die beide Seiten der Straße säumten. Eine dicke Laubschicht in allen Schattierungen von Rot, Gelb und Braun bedeckte den Boden; ein Anblick, der sie unter anderen Umständen in helles Entzücken versetzt hätte.
Aber irgendetwas trieb sie weiter; ein Drang, den sie bislang
noch nicht verspürt hatte. Als sie das Norman’s Restaurant betreten hatte, um sich nach Samson zu erkundigen, war sie von innerer Unruhe und Aufregung erfüllt gewesen, aber jetzt gesellte sich Furcht zu der nervösen Energie, die sie bislang angetrieben hatte. Keine Angst um die eigene Person oder Furcht vor dem Mann, der ihr Vater war. Nein, jetzt hatte sie eine undefinierbare Angst ergriffen, die an Panik grenzte; ein Gefühl, das sie nicht beschreiben konnte, das aber von Minute zu Minute stärker wurde.
Plötzlich endete die Allee, und vor ihr erstreckte sich ein freies Feld. Mitten darauf stand ganz für sich allein ein kleines, heruntergekommenes Haus. Je näher sie kam, desto deutlicher wurden die Zeichen von Verwahrlosung und Verfall. Auf dem Dach fehlten zahlreiche Ziegel, die Farbe war abgeblättert und hätte dringend erneuert werden müssen.
Sloane hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, in welchen Verhältnissen Samson lebte. Als sie das Auto vor dem Haus abstellte, empfand sie plötzlich überwältigendes Mitleid mit dem Mann und der einsamen, kläglichen Existenz, die er zu führen schien.
Sie ging über die mit Schotter bestreute Auffahrt auf das Haus zu. Falls sie je asphaltiert worden war, war davon nichts mehr zu sehen. Auf halber Strecke blieb sie stehen, weil sie ein leises Kläffen hörte. Als sie sich umblickte, sah sie einen kleinen mopsähnlichen Hund auf kurzen, stämmigen Beinchen auf sich zurennen. Er sprang an ihr hoch und bettelte schamlos darum, von ihr gestreichelt zu werden.
Sloane beugte sich zu ihm hinunter und strich über sein kurzes, zotteliges Fell. Er sah aus, als hätte er ein Bad ebenso dringend nötig wie Streicheleinheiten, dennoch nahm sie ihn nach kurzem Zögern wider besseres Wissen auf den Arm.
Er war schwerer, als sie gedacht hatte. »Du bist ja ein ganz
schöner Brocken«, teilte sie ihm mit, als sie ihn zum Haus trug. Sie konnte nicht leugnen, dass der warme Hundekörper ihr ein Gefühl der Sicherheit verlieh, und sie drückte das Tier fester an sich.
Vor der Vordertür blieb sie stehen, weil ihre Nerven sie im Stich zu lassen drohten. Doch ehe der Drang, kehrtzumachen und zum Auto zurückzulaufen, übermächtig wurde, drückte sie auf die Klingel und war nicht sonderlich überrascht, als diese keinen Ton von sich gab. Nach einem weiteren erfolglosen Versuch hämmerte sie gegen die Tür und trat erschrocken einen Schritt zurück, als sie nachgab und aufschwang. Der Hund wand sich in ihren Armen, dann sprang er zu Boden und rannte ins Haus.
»Hallo?« Sloane widerstrebte es, unaufgefordert ein fremdes Haus zu betreten. Als niemand antwortete, wagte sie zögernd einen Schritt über die Schwelle. Mittlerweile zitterte sie am ganzen Leib, aber dennoch war sie fest entschlossen, Samson zu finden, und so ging sie weiter in die dunkle Diele hinein.
Ein Gestank nach faulen Eiern schlug ihr entgegen. Obwohl Sloane jetzt in einem Apartment lebte, war sie in einem Haus mit Gasheizung aufgewachsen und wusste daher sofort, was der Geruch zu bedeuten hatte. Die Gasleitung dieses Hauses hatte ein Leck.
Die Vernunft riet ihr, sofort in die Stadt zurückzufahren und das Gaswerk zu verständigen, aber was, wenn Samson da drin war? Noch ein Mal rief sie laut: »Hallo? Samson?«
Wieder erhielt sie keine Antwort.
Sie blickte sich um, schloss aber aus den dunklen Räumen und dem widerlichen Gestank, dass das Haus leer sein musste. Jeder, der sich darin aufgehalten
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