Für eine Nacht
Chase hatte nach seinem Einzug einige Renovierungsarbeiten an dem alten viktorianischen Haus vorgenommen. Obgleich er die Büroräume im Erdgeschoss über eine Innentreppe erreichen konnte, hatte er für seine privaten Besucher einen separaten Eingang angelegt. Er ging zur Tür und sah zu seinem Missbehagen den honigblonden Haarschopf seiner Mutter hinter dem Sichtfenster aufleuchten.
»Verdammt.« Da er wusste, dass es kein Entrinnen gab, öffnete er widerstrebend die Tür.
Noch ehe er ein Wort sagen konnte, zog seine Mutter ihn in die Arme und drückte ihn an sich. »Ist dir etwas passiert? Ich habe gehört, was mit Samsons Haus geschehen ist, und bin vor Angst fast gestorben!« Sie trat einen Schritt zurück, und tatsächlich durchzogen Sorgenfältchen ihr hübsches Gesicht, als sie ihm über die Arme strich, als wolle sie sich davon überzeugen, dass wirklich noch alles an ihm dran war.
»Brodelt die Gerüchteküche schon?«, fragte er leichthin, um die Situation ein wenig aufzulockern. Raina mochte ihre Herzschwäche ja nur vortäuschen, aber sie war nicht mehr jung und liebte ihre Söhne über alles. Er wollte nicht, dass sie sich unnötig aufregte.
»Seit wann kann man in dieser Stadt irgendetwas geheim
halten?« Raina stemmte eine Hand in die Hüften und drohte ihm mit dem Zeigefinger der anderen, aber in ihren Augen schimmerten Tränen, und ihre Erleichterung war ihr deutlich anzumerken. »Jetzt hilf mir erst einmal, die Sachen hier reinzutragen.« Sie wedelte mit der Hand durch die Luft.
Erst jetzt sah Chase die großen braunen, bis obenhin gefüllten Papiertüten hinter ihr. »Was ist denn das?«, fragte er erstaunt, während er sich mit den Tüten belud.
»Na, dein Abendessen natürlich. Nach so einem turbulenten Tag brauchst du eine Stärkung. Norman hat dein Leibgericht gekocht, der Gute.« Sie folgte ihm in die Wohnung, dabei redete sie unaufhörlich auf ihn ein.
Es gelang ihm, die Tüten bis in die Küche zu schleppen, ehe bei einer davon ein Tragegriff riss und der Inhalt über den Boden kullerte. Leise fluchend inspizierte er die Bescherung. Zum Glück schien nichts kaputtgegangen zu sein. Aber die Tüten waren schwer gewesen, und eine Frau, die angeblich ein schwaches Herz hatte, hätte sie gar nicht tragen dürfen.
Er war immer noch wütend auf sie, weil sie ihren Söhnen ein solches Theater vorgespielt hatte, aber da Sloane jeden Moment aus dem Bad kommen konnte, war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um Raina zur Rede zu stellen. Im Gegenteil, er musste versuchen, sie schleunigst wieder loszuwerden, ehe sie Sloane zu Gesicht bekam, denn dann würde sie zweifellos augenblicklich versuchen, sich ein weiteres Mal als Heiratsvermittlerin zu betätigen. Gnade ihm Gott, wenn sie herausfand, dass sich zwischen Sloane und ihm schon etwas abgespielt hatte oder dass ihm die Frau mehr bedeutete, als er sich eingestehen mochte.
»Hast du die Tüten selbst hochgetragen?« Er schlug bewusst einen tadelnden Tonfall an.
»Nein, das hat ihr Chauffeur für sie getan«, erklang die Stimme von Dr. Eric Fallon von der offenen Tür her.
»Komm rein, Eric«, forderte Chase den einzigen Arzt der Stadt und Lebensgefährten seiner Mutter auf. Er war dem älteren Mann dankbar für das Glück, das er in Rainas Leben brachte. Eric hielt sie auf Trab, brachte sie zum Lachen und predigte Vernunft, wenn sie sich allzu sehr in ihre überspannten Ideen verrannte.
»Das sind die beiden letzten.« Eric stellte zwei weitere Tüten auf die Theke. Zwei Flaschenhälse ragten aus einer Tüte heraus.
»Wein?«, erkundigte sich Chase.
»Champagner«, gab Raina zurück. »Um auf das Leben anzustoßen.«
Das Ganze lief also auf eine Party hinaus. Chase blickte in Richtung Diele und fragte sich, was Sloane wohl denken würde, wenn sie aus dem Bad kam und feststellte, dass sie Publikum bekommen hatten.
Raina nahm eine Flasche des teuren Dom Pérignon und betrachtete sie verlangend. Sie trank nur selten, aber wenn es im Familienkreis etwas zu feiern gab, genehmigte sie sich gern ein Gläschen Schampus. Zu schade, dass Chase ihr die Suppe versalzen würde. Es war die einzige Strafe für ihre Scharade, die ihm im Moment einfiel.
Er legte ihr einen Arm um die Schultern und drückte sie liebevoll an sich. »Du sollst doch keinen Alkohol trinken, Mom. Das schadet deinem Herzen.«
»Der Junge hat Recht, Raina.« Eric entwand ihr die Flasche und stellte sie auf die Theke.
»Spielverderber«, murmelte sie, ohne ihn dabei
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