Für eine Nacht
Fehler bestand darin, dich nach dem Tod deines Vaters in seine Rolle zu drängen. Das ist etwas, was ich nie wieder gutmachen kann.« Sie seufzte, dann drehte sie sich langsam zu ihm um.
Er sah ihr an, wie schwer es ihr fiel, ihm in die Augen zu sehen, begriff aber nicht, was sie so sehr quälte. »Was hättest du denn anderes tun sollen?«
»Dich aufs College schicken zum Beispiel. Die Leitung der Zeitung selbst in die Hand nehmen. Deine Brüder großziehen wie andere allein stehende Mütter auch, ohne den größten Teil der Last auf dich abzuwälzen, obwohl du selbst fast noch ein Kind warst.« Sie schüttelte den Kopf, und zu seinem Entsetzen sah Chase Tränen in ihren Augen schimmern.
»Ich war damals durchaus schon fähig, die Zügel in die Hand zu nehmen«, erinnerte er sie, da er nicht wusste, wie er sie sonst beruhigen sollte. Frauen und Tränen gegenüber war er schon immer hilflos gewesen.
Und genau aus diesem Grund hatte er wohl auch nach dem Tod seines Vaters so rasch und bereitwillig dessen Aufgaben und Pflichten übernommen, erkannte er jetzt. Er hatte Raina gar nicht die Chance gegeben, eigene Entscheidungen für ihre Zukunft und die ihrer Söhne zu treffen. In seinen Augen war er damals der Herr im Haus gewesen und hatte dementsprechend gehandelt – und ihnen allen dadurch sämtliche anderen Wege versperrt. »Was geschehen ist, lässt sich nicht wieder rückgängig machen, Mom.«
»Da stimme ich dir zu.« Sie zupfte ein Papiertaschenbuch
aus der Box auf ihrem Nachttisch und betupfte sich die Augen. »Aber die Zukunft muss keine Neuauflage der Vergangenheit sein. Ich wünschte, du würdest das endlich begreifen.«
Chase rieb sich über die Nasenwurzel, während er überlegte, wie er seine Gedanken in Worte fassen sollte. »Ich bereue nichts, Mom. Ich war und bin mit meinem Leben zufrieden, und vor allen Dingen habe ich eine wundervolle Familie, auf die ich immer zählen kann. Was macht es da schon, dass ich auf ein paar Dinge habe verzichten müssen? Wer von uns muss denn im Leben keine Opfer bringen?«, fragte er. »Aber jetzt liegt das alles hinter mir, und jetzt bin ich an der Reihe, meine Träume zu verwirklichen.«
»Tu das. Niemand würde sich mehr darüber freuen als ich.«
Erleichtert stellte Chase fest, dass die Wangen seiner Mutter einen rosigen Schimmer angenommen hatten. Er war zu ihr durchgedrungen. Sie würde sich jetzt nicht mehr ständig mit Selbstvorwürfen quälen, sondern sich voll und ganz darauf konzentrieren, wieder gesund zu werden.
»Aber pass auf, dass du dabei zwei Dinge nicht übersiehst«, ermahnte Raina ihn dann.
»Als da wären?«
»Achte darauf, dass deine Träume der Gegenwart entspringen und nicht in der Vergangenheit wurzeln. Und vergiss nicht, dass zwischen deiner dir aufgezwungenen Rolle als Vormund für deine beiden recht anstrengenden Brüder und der Freude und Erfüllung, deine eigenen Kinder aufwachsen zu sehen, ein himmelweiter Unterschied besteht.« Sie lächelte, aber ihre Stimme klang ernst.
Sie wollte, dass er heiratete und eine Familie gründete. Daran hatte sich nichts geändert. »Ist mir schon klar, Mom.«
»Nein, du begreifst nicht, worauf ich hinauswill. Das Leben ist kurz. Die Jahre verrinnen, ohne dass du dir dessen richtig bewusst wirst, und auf einmal ist es für Veränderungen zu spät. Wenn du Sloane jetzt gehen lässt, wirst du es später bereuen. Und ich will nicht, dass du nach all dem, was du für uns alle getan hast, irgendetwas in deinem Leben bereuen musst.«
Chase schüttelte den Kopf. »Ich bereue auch nichts, denn ich schaue niemals zurück.« Aber er wollte nicht, dass sie sich auch weiterhin an die Hoffnung klammerte, er würde Ricks und Romans Beispiel folgen und doch noch sesshaft werden, deshalb musste er deutlich werden. »Aber ich habe ganz konkrete Pläne für die Zukunft, und da ist für manche Dinge kein Platz, die du gern darin sehen würdest.«
»Du warst schon immer ein Mann klarer Worte«, erklang eine vertraute Frauenstimme von der Tür her.
Chase fuhr herum und sah Sloane auf der Schwelle stehen. Ein gezwungenes Lächeln lag auf ihrem hübschen Gesicht. Obwohl seine Worte für sie keine Überraschung gewesen sein konnten, entging ihm nicht, dass sie sie tief getroffen hatten, und das Brennen, das in seinem Magen einsetzte, war der beste Beweis dafür, wie sehr er es hasste, ihr wehzutun.
Unwillig fuhr er sich durchs Haar, dann stand er auf, ging zu ihr hinüber und nahm ihre Hand. »Was machst du denn
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