Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
suchten sich einen Platz in einer der hinteren Bänke. Sie fand, es stand ihr nicht zu, weiter vorne zu sitzen. Welche Rolle hatte sie schon in seinem Leben gespielt? Außerdem wollte sie nicht, dass irgendjemand sich fragte, wer sie war. Sie schlug das Programmheft auf. Wieder wunderte sie sich darüber, wie konventionell es gehalten war, aber vielleicht hatte Terence ja gar keine Anweisungen hinterlassen. Norman, der ruhig und schweigend neben ihr saß, gab ihr Sicherheit. Als der Gottesdienst begann, holte sie tief Luft.
Die Schlussansprache wurde von einer außergewöhnlichen Frau von Anfang dreißig gehalten. Sie war groß, mit unglaublich langen Beinen, knallrot gefärbten, langen, krausen Haaren, die am Ansatz grau schimmerten, und intensiven grauen Augen. Sie trug ein Minikleid aus Brokat, und ihre nackten Beine steckten in Cowboystiefeln aus Krokodilleder, die farblich gut zu ihrem Haar passten. Um den Hals hatte sie mehrere Halsketten, die alle aussahen, als hätte sie sie im Vorbeigehen von einem Flohmarktstand mitgehen lassen.
Terence ’ Tochter. Jane wusste nicht, wer die Mutter war, aber sie spürte die Energie der jungen Frau bis in die vorletzte Reihe, wo sie saß. Die Hände auf das Pult gestützt, ohne schriftliche Notizen, sprach die junge Frau voller Leidenschaft von ihrem Vater. Ohne jede Spur von Sentimentalität und doch unglaublich rührend beschrieb sie Anekdoten aus ihrem Leben: wie ihr Vater sie zum Beispiel einmal um zwei Uhr morgens in einem Klub in Soho auf den Tresen gehoben und gebeten hatte, den Gästen etwas vorzusingen, wie er ihr, als sie endlich zu Haus waren, Eier und Toast gemacht hatte. Als sie ihre Ansprache beendete, war kaum ein Auge trocken.
»Mein Vater war immer unberechenbar«, fasste sie zusammen. »Er liebte Überraschungen. Und er hat uns bis zuletzt immer wieder überrascht. Wir waren heute Morgen bei der Testamentseröffnung. Einige von uns fliegen heute schon wieder zurück, deswegen wollten wir nicht bis nach der Beerdigung warten.« Sie bedachte irgendein armes Schwein in der ersten Reihe mit verächtlichen Blicken. »Und es war sehr aufschlussreich.« Sie ließ sich einen Moment Zeit und kostete es aus, dass ihr alle an den Lippen hingen. Dann lächelte sie bedrohlich. Sie suchte die Trauergäste mit ihren Habichtaugen ab, die, wie Jane plötzlich klar wurde, genauso durchdringend blickten wie die ihres Vaters.
»Welche von euch Schlampen ist Jane Milton?«
Ein Raunen ging durch die Menge, und nach einer Schrecksekunde sahen alle einander fragend an. Die junge Frau am Pult lächelte kühl.
»Wo auch immer Sie sind«, fuhr sie fort, »lassen Sie sich gesagt sein, dass wir das Testament anfechten werden!«
Jane saß da wie versteinert. Ihr Herz raste, aber sie wusste, dass sie sich nichts anmerken lassen durfte. Sie spürte, wie Norman ihr eine Hand auf den Arm legte, um ihr genau das zu sagen. Obwohl sie am liebsten davongerannt wäre, gelang es ihr unter Aufbietung aller Kraft, ein unschuldiges Lächeln aufzusetzen und ihren Sitznachbarn achselzuckend anzusehen, wie um zu sagen: »Jane wie? Nie gehört.«
Inzwischen war der Pfarrer nach vorne geeilt und bugsierte die Frau vom Rednerpult weg. Sie ließ sich widerstandslos auf ihren Platz zurückführen, offensichtlich äußerst zufrieden, dass sie ihre Botschaft losgeworden war und Chaos und Konsternierung unter den Trauergästen ausge löst hatte.
Als zehn Minuten später ein Pianist die »Funérailles« von Liszt spielte und die Menschen aus der Kirche strömten, kam Jane sich vor wie in einem Film. Mit undurchdringlicher Miene ließ sie sich von der Menge zum Ausgang schieben, dicht gefolgt von Norman, der sich, als sie auf dem Gehweg standen, keine Zeit ließ, um ein Taxi zu rufen, son dern Jane am Arm nahm und losmarschierte. Sie bogen links in eine Seitenstraße ein, kurz darauf wieder rechts, und erst dann blieb Norman stehen.
»Mein Gott«, keuchte Jane. »Was wissen Sie darüber, Norman? Was hat das alles zu bedeuten?«
Er hielt ein Taxi an, das aus heiterem Himmel erschienen war, und ließ sie einsteigen. Erst als sie es sich auf dem Rücksitz bequem gemacht hatte, beantwortete er ihre Frage.
»Terence ’ Anwalt hat mich heute Morgen angerufen. Er hat Ihnen die Rechte an seinem Roman Teufelsaustreibungen hinterlassen. Die Angehörigen sind außer sich. Und, das brauche ich wohl nicht hinzuzufügen, neugierig.« Er lächelte sie an. »Und ich ebenso, wie ich gestehen muss.«
Sie starrte
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