Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
geweigert, seinem kleinen Bruder zu Hilfe zu eilen, und David erinnerte sich, dass er ein schadenfrohes Funkeln in seinen Augen gesehen hatte, ein Anzeichen für Philips sadistische Ader. Am Ende war David über die Felsen geklettert und über die Spalten gesprungen, bis er Adrian erreicht hatte, dann hatte er ihn an der Hand genommen und ihm beim Runterklettern geholfen. Kaum hatten sie den Strand erreicht, hatte Adrian seine Hand losgelassen, um vor seinen Brüdern nicht wie eine Memme dazustehen. Philip hatte nur gegrinst.
Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, ließ David seinen Blick schweifen, bis er den Felsen gefunden hatte, auf dem Adrian einst gesessen hatte. Die Landschaft hatte sich in all den Jahren nicht verändert – es war, als könnte er die ängstliche Gestalt jetzt noch dort hocken sehen. Dann plötzlich wurde ihm bewusst, dass da oben tatsächlich jemand saß. Er nahm die Sonnenbrille ab und kniff die Augen zusammen. Es war ein kleines Mädchen! Sie hockte auf dem Felsen, die Arme um die Knie geschlungen, offensichtlich starr vor Angst. Das Wasser stieg. Wenn sie die Felsen nicht verdammt gut kannte, würde sie innerhalb weniger Minuten in der Falle sitzen.
David lief in ihr Blickfeld, und winkte ihr zu.
»Hey du!«, rief er. »Halt durch! Ich komme dich holen!«
Sie reagierte nicht. Entweder hatte sie ihn nicht gehört, oder sie war zu verängstigt, um zu reagieren. David kletterte über die Felsen, stieß einen Fluch aus, als er sich an einer scharfen Muschel schnitt. Aber er hatte keine Zeit, sich die Schuhe wieder anzuziehen.
»Alison!«
Alison riss die Augen auf. Mike klang aufgebracht. Was war passiert? Sie setzte sich auf, überzeugt, nur einen Moment eingenickt zu sein. Es war so warm gewesen in der Nachmittagssonne, und sie war erschöpft. Chayenne hatte auf der Decke neben ihr gehockt und zufrieden mit ihrem Gameboy gespielt, den Alison ihr zuerst nicht hatte kaufen wollen.
Nun lag er auf der Decke und piepste einsam vor sich hin.
»Wo ist Chayenne?«
Mike stand vor ihr, in der einen Hand ein Magnum, in der anderen ein Cornetto.
Alison blieb fast das Herz stehen. »Eben war sie noch hier. Sie muss aufs Klo gegangen sein.« Angst schnürte ihr die Kehle zu.
Mike rannte in die Hütte und kam gleich darauf wieder heraus. »Hier ist sie nicht. Wo zum Teufel ist sie hin? Wie kann es sein, dass du eingeschlafen bist?«, fragte er wütend und funkelte sie vorwurfsvoll an.
»Ich hab nur zwei Minuten die Augen zugemacht! Sie war doch hier neben mir.«
»Tja, jetzt ist sie weg.«
Alison legte eine Hand an die Stirn, um ihre Augen gegen das grelle Sonnenlicht zu schützen, und suchte den Strand ab. Chayenne hatte ein gelbes Shirt und Jeansshorts an. Oder? Sie war sich auf einmal nicht mehr ganz sicher. Das sonnige Wetter zog die Urlauber in Scharen an. Sie hockten in Trauben im Sand, hatten ihre Decken ausgebreitet und ihre Strandmuscheln aufgebaut. Es war so gut wie unmöglich, in dem Gewühl ein einzelnes Kind auszumachen.
»Ich geh sie suchen. Ich frage den Strandwächter, ob er mir hilft.«
»Nein«, entgegnete Mike bestimmt. »Du bleibst hier für den Fall, dass sie zurückkommt. Wie lange, meinst du, kann sie schon weg sein?«
Alison hatte keine Ahnung. Sie konnte ihm keine Antwort geben. Sie konnte Mike nicht einmal in die Augen sehen. Er durchbohrte sie mit einem vorwurfsvollen Blick, dann ging er los.
Ihre Knie wurden weich, und sie ließ sich zurück auf die Decke sinken. Lieber Gott, betete sie im Stillen, bitte, mach, dass ihr nichts passiert ist. Sie dachte an all das Schlimme, was einem kleinen Mädchen in kurzer Zeit zustoßen konnte. Noch einmal suchte sie den Strand mit den Augen ab. Es war zwecklos.
»Leg deine Arme um meinen Hals«, sagte David.
Die Kleine starrte ihn nur mit leerem Blick an.
»Komm schon – wir haben nicht viel Zeit! In einer Minute liegt dieser Felsen komplett unter Wasser. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich trag dich. Das hab ich mit meiner Tochter schon ganz oft gemacht.«
Schließlich gehorchte das Mädchen, und David hob sie hoch. Sie wog fast nichts, war dünn wie ein Floh. Er spürte, wie sich ihr ganzer Körper anspannte.
»Hey«, sagte er freundlich. »Stell dir einfach vor, das ist ein Abenteuer. Dasselbe ist meinem Bruder passiert, als wir klein waren. Aber ich kenne den geheimen Fluchtweg. Drei Felsen da lang, dann zwei in die andere Richtung, und dann sind wir schon fast am Strand. Okay?«
Sie nickte, dann
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