Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
ihr keine Versprechungen gemacht. Sie hatte sich das alles selbst ausgedacht, das Märchen mit dem Happy End.
»Ich dachte einfach, ich würde dir etwas bedeuten. Wirklich idiotisch von mir.«
Er zögerte einen Augenblick. Er wirkte gequält, als wollte er irgendetwas Wichtiges sagen. Dann seufzte er. »Es tut mir leid.«
Was genau ihm nun leidtat, erklärte er nicht weiter. Dass er ihr das Herz gebrochen hatte? Sie bloß benutzt hatte? Dass er erwischt worden war? Dass seine Arbeit zum Teufel war?
Plötzlich fasste er sie an den Schultern und schaute ihr tief in die Augen. »Es tut mir leid, Janey.«
Er ließ die Hände sinken, drehte sich um und ging den Pfad hinauf, den sie in den vergangenen Wochen so oft mit vor Vorfreude pochendem Herzen hochgestiegen war. Sein Gang war steif vor Anspannung. Als sie zum Haus hochschaute, sah sie Barbara, die ihm vom Balkon aus zuwinkte.
Auf einmal wusste Jane, dass sie sich nie wieder mit jemandem so fühlen würde wie mit ihm. Niemals. Sie hatte es gekostet, dieses herzzerreißende Gefühl, das alle menschlichen Wesen antreibt und sie von den Tieren unterscheidet. Das Gefühl, das auch seinem Schreiben immer neue Nahrung gab. Das Gefühl, das er einst mit seiner Heldin Anita Palmer erlebt hatte und das er nie wieder würde empfinden können. Was danach kam, war bloße Spielerei für ihn.
Jane ging zurück in die Kühle der kleinen Strandhütte. Ihre Eltern dösten am Strand, Robert und Elsie vergnügten sich im flachen Wasser. Sie nahm ihre Umhängetasche und warf einen Blick hinein. Es war alles da bis auf das Titelblatt, das sie auf den Ofen gelegt hatte.
Vorsichtig nahm sie das Manuskript heraus, zweihundertundzweiundvierzig Seiten. An wie viel von seinem eigenen Text würde er sich wohl erinnern können? Wie lange würde er brauchen, alles noch einmal zu schreiben? Würde er sich die Mühe überhaupt machen?
Sie wünschte ihm von ganzem Herzen schlaflose Nächte, in denen er sich die Haare raufte über den Verlust. Sie hoffte, dass er Qualen litt. Sie hoffte, dass er vergeblich versuchte, sich an die Handlung zu erinnern, an die anschaulichen Passagen, die wundervollen Dialoge, die sie zu Tränen gerührt hatten. Sie hoffte, dass er ein Fünftel oder wenigstens ein Zehntel der Verzweiflung empfand, die sie gerade zu erdrücken schien.
Vielleicht würde er ja auf diese Weise seine Lektion lernen.
Gegen Ende des Sommers organisierte ihre Mutter eine Party für die Eigentümer der Strandhütten. Sie hatten sich alle während der vielen hier verbrachten Ferien kennengelernt. Es waren Freundschaften entstanden, die Kinder hatten sich ihrem Alter entsprechend zusammengetan. Alle, die irgendetwas mit der Sommerfrische zu tun hatten, waren eingeladen, auch die Leute, die die Poststelle betrieben, und Roy und seine Familie.
Janes Vater schichtete ein großes Feuer auf, sodass sie Würstchen und Marshmallows grillen konnten. Jeder steuerte etwas zum Essen bei. Der Wirt des »Ship Aground« spendierte ein Fass Bier für die Männer, und für die Frauen gab es eine Bowle, die es in sich hatte.
Jane gönnte sich gleich vier Gläser Bowle. Seit sie bei Terence gelernt hatte, Wein zu trinken, war sie auf den Geschmack gekommen. Nach dem fünften Glas war sie dann so beschwipst, dass sie übermütig wurde.
Als die Sonne wie eine goldene Scheibe langsam im Meer versank und sich der Himmel darüber rosa verfärbte, nahm sie Roys Hand und führte ihn hinter die Hütten. Im Dämmerlicht standen sie dicht voreinander.
»Nimm mich in den Arm«, forderte sie ihn auf, woraufhin er unbeholfen die Arme um sie schlang und sie an sich zog. Sie schloss die Augen und drückte ihre Lippen auf seinen Mund. Begierig erwiderte er ihren Kuss und zog sie noch enger an sich.
Sie empfand nichts. Er küsste sie, und sie fühlte nichts. Terence hatte sie bloß anschauen müssen, und schon war sie von Verlangen erfüllt gewesen. Roy zu küssen war angenehm. Sie empfand weder Widerwillen noch Ekel. Aber es war nichts Besonderes. Es führte nicht dazu, dass sie für ihn sterben wollte. Es machte sie nicht schwindlig, und sie be kam keine weichen Knie. Es war – wie einen Apfel zu essen. Etwas ganz Normales.
Jane löste sich von ihm. Roy war viel zu nett, um als Versuchskaninchen herzuhalten. Er hatte etwas Besseres verdient. Jemanden, der Empfindungen erwiderte, zumindest.
»Tut mir leid«, flüsterte sie.
»Was ist denn los?«, fragte er besorgt.
Doch sie schüttelte nur den Kopf und ging. Die
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