Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
die ganze Zeit waren ihnen die Fernsehleute auf den Fersen, die sich keinen interessanten Moment entgehen lassen wollte.
Nach einer Weile standen die fünf Spitzenreiter fest. Janet beobachtete mit Argusaugen, wie der Preisrichter und seine Berater noch einmal zu jedem Kandidaten gingen und sich untereinander berieten. Alan war natürlich immer noch im Rennen. Wie konnte es anders sein? Es bestand kein Zweifel daran, dass seine Sandburg auch dieses Jahr die beste und prachtvollste war. Es war nur eine Frage der Zeit. Er wirkte kein bisschen nervös, sondern plauderte lächelnd mit Leuten, die vorbeikamen und sein Werk bewunderten.
Jetzt waren noch drei Kandidaten übrig. Alan mit seinem Neptunschloss, das verliebte Pärchen neben ihm, dessen Sandburg, die über und über bedeckt war mit Rosen und Ranken, offenbar das Dornröschenschloss darstellen sollte, und ein weiteres Paar – ein Mann mit Bürstenschnitt und eine langhaarige Frau –, die das walisische Märchendorf Portmeirion nachgebaut hatten. Die Spannung wurde unerträglich. Janet klopfte das Herz bis zum Hals. Der DJ machte es ihr auch nicht leichter:
»Jeden Augenblick werden wir erfahren, wer der diesjährige Gewinner ist! Die Richter diskutieren noch. Offenbar können sie sich nicht einigen …«
Wieso konnten sie sich nicht einigen? Das sah doch ein Blinder, wer den ersten Preis verdient hatte. Die Begabung, die Kunstfertigkeit, die ausgetüftelten Details, alles stimmte! Wahrscheinlich wollten sie nur die Spannung steigern, wie es in den Reality-Shows im Fernsehen üblich geworden war. Das war doch alles nur Theater für die Kameras.
Als der Preisrichter endlich die kleine Flagge hob, die den ersten Preis bedeutete, und sie in den Turm des Dornröschenschlosses steckte, wurde Janet speiübel. Sie konnte Alans Gesichtsausdruck nicht erkennen, war sich nicht einmal sicher, ob er begriffen hatte, was soeben geschehen war. Die beiden Jugendlichen lagen einander in den Armen, das Mädchen mit der wilden roten Mähne, der Junge mit dem dunklen Haar. Glückliche, gesunde, privilegierte Jugendliche, die das alles überhaupt nicht ernst nahmen, für die der Wettbewerb nur ein Spiel gewesen war, etwas, worüber sie sich am Abend im Pub amüsieren konnten. Für die es nicht die Belohnung für ein Jahr harte Arbeit bedeutete. Janet hatte einen sauren Geschmack im Mund. Enttäuschung. Wut.
Die Fernsehleute schoben sich vor, streckten den beiden Gewinnern ihre Mikrofone hin. Das Mädchen strahlte übers ganze Gesicht, als sie mit leuchtenden Augen erklärte, wie glücklich sie seien und wie sehr sie sich über den Sieg freuten.
Eigentlich hätte sie sich gleich denken können, dass die den Preis bekommen würde, dachte Janet grimmig. Schließlich wurde das Ganze dieses Jahr zum ersten Mal vom Fern sehen übertragen. Da brauchten sie ein hübsches junges Mäd chen, das seine Gefühle zum Ausdruck bringen konnte, das perfekte Antlitz für die zynische Geschäftemacherei, zu der das Turnier verkommen war. Die wollten keinen erwachsenen Mann mit einer Lernschwäche, der nicht wusste, wie er sich ausdrücken sollte, obwohl er mehr Hürden überwunden hatte, um bis hierher zu kommen, als die beiden diesjährigen Gewinner in ihrem ganzen Leben würden nehmen müssen.
Sie sah zu, wie Alan und seine Helfer auf seiner Sandburg herumsprangen, das rituelle Zerstörungswerk. Daneben erhob sich stolz das prämierte Dornröschenschloss, auf dessen Turm die Siegerfahne wehte. Am liebsten wäre Janet losgerannt und hätte das Dornröschenschloss ebenfalls dem Erdboden gleichgemacht, die Türme zum Einsturz gebracht und die Zugbrücke zertrampelt, aber das wäre schlechter Stil gewesen. Stattdessen ging sie in die Hütte, um Teewasser aufzusetzen. Eins stand fest: Sie würde das nicht noch einmal durchstehen, die Aufregung, die Vorfreude, die Spannung und eine solche Enttäuschung.
Im nächsten Jahr würden sie nicht wieder herkommen.
6
Strandgutsammler
Wann genau war der blonde Wildfang zu einem tizianroten Vamp mutiert?
Als Harry Milton Florence Carr das letzte Mal gesehen hatte, war sie noch ein pickliges, strubbelköpfiges, knochiges kleines Ding gewesen, die jüngste Tochter der Familie drei Hütten weiter, denen alle aus dem Weg gingen, weil sie die totalen Spießer waren. Jetzt sah sie einfach umwerfend aus! Der blonde Strubbelkopf hatte sich in eine rote Lockenpracht verwandelt, ihre grünen Augen mit den golde nen Sprenkeln darin funkelten, und die Sonne von
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