Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
rührselige Story ausdachte, leere Worte zu Papier brachte, nur um sein Gewissen zu erleichtern und sich zum Helden des ganzen Dramas zu stilisieren.
Na ja, wenigstens hatte sie ihrem Enkel nun alles erzählt, und vielleicht diente das ja dazu, dass ihm erspart blieb, dasselbe durchzumachen wie sie. Aber eigentlich glaubte Jane nicht wirklich daran. Weise Worte waren schön und gut, aber sie brachten niemanden dazu, auf den Verstand zu hören, wenn das Herz etwas anderes sagte. Die Liebe, egal auf welche Weise sie von einem Besitz ergriff, war letztlich meistens schmerzhaft.
Es klopfte an der Tür. Hastig wischte sie sich die Augen. Durch das Fenster sah sie, dass es Roy war, und sie beeilte sich aufzumachen.
Er wirkte ein bisschen verlegen.
»Hallo, Jane, ich habe mehr Seebarsch gefangen, als ich allein essen kann«, sagte er atemlos. »Meine Gefriertruhe platzt schon aus allen Nähten. Ich dachte … vielleicht willst du mir helfen?« Er holte tief Luft, dann lächelte er. »Also, ich meinte, hättest du vielleicht Lust, mit mir zu Abend zu essen?«
Jane war total überrascht. Sie beide waren immer Freunde gewesen, hatten aber höchstens mal eine Tasse Kaffee zusammen getrunken. Sie freute sich riesig über die Einladung.
»Aber ja!«
»Heute Abend? So gegen acht?«
»Abgemacht.«
Er hob eine Hand zum Gruß und machte sich auf den Weg zurück.
Jane schaute ihm nach, wie er sich zwischen den Badegästen hindurchschlängelte und schließlich hinter dem Kiosk verschwand – dem Kiosk, in dem er früher gearbeitet hatte. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie immer noch den Duft von kaltem Vanilleeis riechen, die Wärme der Sonne spüren, die Musik aus dem Radio hören.
Was wäre wohl gewesen, wenn sie ihn damals am Kiosk geküsst hätte, wenn gerade keine Kunden da gewesen wären, wie er es so gern gewollt hätte? Was wäre gewesen, wenn der Kuss genauso süß geschmeckt hätte wie das Vanilleeis, das er verkaufte? Dann hätte er sie vielleicht gegen Terence Shaw immun gemacht. Dann hätte sie sich vielleicht nie für ihren Arbeitgeber interessiert. Stattdessen hätte sie sich beeilt, ihr Pensum zu erledigen, um möglichst schnell wieder bei ihrem Liebsten zu sein. Es wäre eine süße, unschuldige Jugendliebe gewesen, eine Beziehung, die genau richtig gewesen wäre.
Natürlich hätte sich nie etwas Ernstes daraus entwickelt. Selbst damals hatte Jane von mehr geträumt, als Roy ihr je hätte bieten können, und am Ende des Sommers hätte sie sich höchstwahrscheinlich von ihm getrennt. Aber zumindest wäre sie unbeschadet davongekommen, wäre nach dieser Sommerromanze optimistisch und mit leuchtenden Augen nach Hause gefahren. Nicht verletzt und zerstört und voller innerer Narben.
Jane setzte sich wieder in ihren Sessel. Sie fühlte sich unglaublich müde. Dass sie tatsächlich eingenickt sein musste, merkte sie erst, als Harry sie besorgt an der Schulter berührte.
»Granny? Alles in Ordnung?«
»Natürlich. Ich bin nur ein bisschen eingedöst.« Sie warf einen Blick auf die Wanduhr. Es war Viertel nach vier.
»Roy hat mich heute zum Abendessen eingeladen.«
Harry grinste. »Ach wirklich?«, fragte er mit hochgezogenen Brauen.
Jane trat an die Spüle und füllte ein Glas mit Wasser. Sie spürte, wie sie leicht errötete.
»Weißt du denn schon, was du zu deinem Rendezvous anziehen wirst?«
»Es ist kein Rendezvous«, sagte sie. »Er hat bloß zu viel Seebarsch gefangen.«
»Alles klar.« Es machte Harry Spaß, sie ein bisschen aufzuziehen. »Den Fisch hätte er doch einfach einfrieren können.«
»Seine Gefriertruhe ist schon voll, hat er gesagt.«
Er legte ihr einen Arm um die Schultern und drückte sie.
Jane war froh, dass sich ihr wunderbarer Enkel nicht scheute, seine Gefühle zu zeigen.
»Es wird bestimmt ein schöner Abend. Roy ist cool.« In Harrys Welt war cool die höchste Auszeichnung.
Jane schob ihm eine dunkle Strähne aus der Stirn. Wenn ihr Leben anders verlaufen wäre, hätte es diesen großartigen Jungen nie gegeben. Sie hätte ihn gegen nichts auf der Welt eintauschen wollen.
»Und bei dir?«, fragte sie zärtlich.
»Wird schon wieder«, sagte er. »Die Zeit heilt alle Wunden und so weiter.«
Sie umarmten sich, und Jane schaute noch einmal nach der Uhr. Hatte sie noch genug Zeit, um rasch ins Dorf zu fahren und sich für den Abend etwas Neues zum Anziehen zu kaufen? Nichts Aufregendes, aber vielleicht einen neuen Pullover? Oder ein Paar Ohrringe? Sie spürte ein Kribbeln
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