Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
oder in eine Konzerthalle. Und sie genoss es, dabei die Leute zu beobachten, zu sehen, wie auch sie von der Musik emporgehoben und für eine Weile von ihren Sorgen befreit wurden.
Ludo Miller war der Dirigent. Das Streichquartett spielte Puccinis Crisantemi – ein tragisches Stück, das er angeblich nach der Nachricht vom Tod des Herzogs von Savoyen innerhalb einer einzigen Nacht geschrieben hatte. Ludo trug ein schwarzes Hemd und eine perfekt geschnittene schwarze Hose. Seine Augen waren dunkel, sein Haar dicht und leicht zerzaust, und sein Gebaren außerordentlich ernsthaft. Er war so sehr auf die Musik konzentriert, dass er sein Publikum gar nicht wahrzunehmen schien. Er brachte die Streicher dazu, in jede Note so viel Trauer zu legen, dass es einem das Herz brach. Am Ende des Konzerts war Marisa in Tränen aufgelöst. Nichts hatte sie jemals so berührt. Und auch wenn man den Standpunkt vertreten konnte, dass nicht Ludo Miller, sondern Puccini diese Gefühle in ihr ausgelöst hatte, so wusste sie doch, dass ein weniger begnadeter Dirigent aus dem Stück womöglich eine bedeutungslose Aufführung gemacht hätte.
Als der Applaus verklang und die Leute den Saal verließen, musste Marisa sich beeilen. Sie ging nach vorne zum Dirigentenpult, wo Ludo gerade seine Partitur zusammenfaltete, und stellte sich so vor ihn, dass er ihr direkt in die Augen sehen musste.
»Das war wirklich außergewöhnlich«, sagte sie.
»Danke schön.« Er verbeugte sich höflich und nahm seinen Dirigentenstab.
An Lob und Bewunderung war er gewöhnt. Um sein Interesse zu wecken, musste sie sich schon etwas anderes einfallen lassen.
»Ich … würde Sie gern zum Abendessen einladen.«
Er blickte auf.
Sie lächelte über seine Verwunderung. Jetzt hatte sie seine Aufmerksamkeit. Frauen machten nicht selten den ersten Schritt, damals jedenfalls. Ihn so direkt einzuladen war ge wagt.
Er sagte nichts. Wirkte völlig verblüfft.
Ganz gelassen, so, als wäre es das Natürlichste der Welt, dass eine Zweiundzwanzigjährige einen Mann, der mindestens fünf Jahre älter war als sie, zum Abendessen einlud, fuhr sie fort: »Ich kenne ein ausgezeichnetes Restaurant hier in der Nähe. Hätten Sie heute Abend Zeit?«
Er musterte sie von oben bis unten, immer noch schweigend.
Sie genoss das Kribbeln auf ihrer Haut, als sein Blick über ihr Schlüsselbein, ihren Hals, ihre Schläfe wanderte, bis er ihr in die Augen sah. Einen Moment lang schien die Welt stillzustehen, als sie beide erkannten, dass es ab jetzt kein Zurück mehr geben würde.
Zum ersten Mal sah sie ihn lächeln.
»Es wäre mir ein Vergnügen.«
Wie berauscht ging sie noch einmal zurück ins Büro. Sie fragte ihren Chef, ob sie zwei Stunden früher Feierabend machen könne, was er ihr selbstverständlich zugestand. Marisa war eine der zuverlässigsten Angestellten, die er je gehabt hatte, und er tat ihr gern den Gefallen. Sie eilte zu Fen wick und kaufte sich ein lavendelfarbenes Leinenkleid, einen neuen Lippenstift und eine Flasche Jicky von Guerlain. Duft war eine der stärksten Waffen, das wusste sie. Und sie würde nichts unversucht lassen.
Natürlich war er hingerissen. Sie rührten das Essen auf ihren Tellern kaum an, obwohl es vorzüglich war. Sie führten kein höflich gestelztes Gespräch, sondern tauschten sich über ihre Hoffnungen und Träume, ihre Leidenschaften und Geheimnisse aus. Und auf dem kleinen, schattigen Platz vor dem Restaurant küssten sie sich zum ersten Mal. Der Mond hüllte sie in sein silbriges Licht wie in einen zarten Kokon.
Sie führten ein wunderbares Leben. Kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten, gab Marisa ihre Stelle im Auktionshaus auf und wurde weniger Ludos persönliche Assistentin als vielmehr seine Managerin. Bis dahin war er kaum in der Lage gewesen, sein Leben zu organisieren, besaß keinen ordentlichen Terminkalender, war nie pünktlich und vergaß Engagements, wenn ihn nicht jemand daran erinnerte. Manchmal grenzte es an ein Wunder, dass er überhaupt zu einem Konzert erschien. Seine Gedanken schienen sich stets in höheren Sphären zu bewegen. Er dachte an nichts als an seine Musik, das Alltägliche streifte ihn höchstens zufällig. Marisa hingegen dachte an alles, vom Taxi, das ihn vom Flughafen zur Konzerthalle brachte, bis hin zu seiner Lieblingszahnpasta in seinem Kulturbeutel.
Auf diese Weise entlastet, konnte Ludo sich noch mehr seiner Musik widmen. Sein Charisma und sein Fingerspitzengefühl machten ihn nicht nur beim
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