Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
ganz deutlich.«
»Ja, das sieht wirklich jeder«, erwiderte Jane, doch dann sagte sie sich, dass Harry auch nichts davon hatte, wenn sie jetzt über Florence herzog. »Aber sie ist auch sehr at traktiv. Ich kann verstehen, dass du dich in sie verliebt hast.«
Harry trank das Wasser aus und ließ sich wieder auf sein Kissen sinken. »Danke«, sagte er und schloss die Augen. Ihm dröhnte der Schädel. »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Plötzlich kommt es mir so vor, als wäre sie das Einzige, was in meinem Leben eine Rolle spielt. Wie kann das sein? Ich meine, ich kenne sie doch kaum. Jedenfalls nicht diese Florence. Es ist vollkommen verrückt …«
»So ist die Liebe nun mal«, sagte Jane. »Verrückt. Unkontrollierbar. Destruktiv.«
Harry machte die Augen wieder auf und sah seine Großmutter an. Das war aus tiefster Seele gekommen. Und voller Verbitterung. So kannte er sie gar nicht.
»Du redest doch nicht von Grandpa, oder?«, fragte er. »Du redest doch nicht von dem, was er dir angetan hat?«
»Nein«, antwortete sie. »Was er getan hat, war schlimm, aber es hat mich nicht tief verletzt. Darüber war ich längst hinaus, als er gestorben ist.«
Sie nahm seine Hand.
»Ich möchte dir eine Geschichte erzählen, Harry. Über etwas, das mir zugestoßen ist, als ich ungefähr in deinem Alter war. Denn ich möchte nicht, dass du dasselbe durchmachst wie ich. Du sollst keine Minute deines Lebens an jemanden vergeuden, der es nicht wert ist. Du hast etwas Besseres verdient.«
Und dann erzählte sie ihm die Geschichte, die sie noch nie jemandem anvertraut hatte. Die Geschichte von einem jungen Mädchen und einem älteren Mann, von einer Beziehung, die von Anfang an keine gewesen war. Und wie sie sich ihr Leben lang nach dem verzehrt hatte, was hätte sein können, anstatt mit einem anderen Mann glücklich zu werden. Wie sie falsche Entscheidungen getroffen und wahrscheinlich auch andere ins Unglück gestürzt hatte. Wenn Graham sie nicht glücklich gemacht hatte, dann vielleicht auch deshalb, weil er tief im Innern immer gewusst hatte, dass er nur die zweite Wahl gewesen war.
»Ich weiß, das wird es dir nicht jetzt sofort leichter machen«, sagte Jane zum Schluss. »Betrachte es einfach als warnendes Beispiel. Egal, wie wunderbar du Florence jetzt findest, egal, wie sehr du davon überzeugt bist, dass sie dich glücklich machen wird – lass sie nicht über dein Leben bestimmen.«
Harry setzte sich auf. »Was für eine schreckliche Geschichte«, sagte er betroffen. »Ich hatte ja keine Ahnung.«
»Natürlich nicht, wie könntest du auch? Als du auf die Welt kamst, war ich bereits die weltbeste Expertin im So-tun-als-wäre-ich-glücklich. Und ehrlich gesagt war ich das damals tatsächlich. Ich weiß nicht, ob ich eine besonders gute Mutter war, aber Großmutter zu sein ist wirklich etwas Wunderbares. Ihr Kinder habt mir unbeschreiblich viel Freude bereitet, also würde ich sagen, habe ich letztlich doch Glück gehabt.«
Sie nahm ihn in die Arme.
»So, Märchenstunde zu Ende! An deiner Stelle würde ich versuchen, noch ein bisschen zu schlafen. Wenn du wach wirst, mach ich dir Mittagessen.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Schlaf schön. Und denk mal über das nach, was ich dir erzählt habe.«
Harry schaute ihr nach. Er war schwer beeindruckt. Was für eine unglaubliche Geschichte! Er hatte seine Großmutter schon immer bewundert, aber er hatte nie geahnt, dass sie so ein schreckliches Geheimnis hütete. Es machte ihn tieftraurig, dass sie ihr Leben lang so unglücklich gewesen war. Und beim Einschlafen wurde ihm klar, dass er ihre Tragödie nur dann ein bisschen weniger tragisch machen konnte, wenn er aus ihren Fehlern lernte.
Zum Teufel mit Florence, dachte er und lachte reumütig in sich hinein. Er hatte sich den Spaß entgehen lassen.
Jane ging ins Wohnzimmer zurück und setzte sich in ihren blassgrünen Ohrensessel. Es war schlimm, jemanden leiden zu sehen, den man liebte, und zu wissen, dass man überhaupt nichts dagegen tun konnte. Sie hätte gern an Harrys Stelle gelitten, denn sie kannte das quälende Gefühl nur zu gut, die verzweifelte Hoffnung, dass sich alles zum Guten wenden würde, hin und her gerissen zwischen Optimismus und Schwermut. Aber natürlich konnte sie ihm das nicht abnehmen. Da musste er selbst durch. Andererseits, sagte sie sich, war die Fähigkeit zu leiden das, was den Menschen zum Menschen machte, und letztlich würde die Erfahrung ihn nur stärken.
Jane
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